Stadtverwaltung im Nationalsozialismus:Münchens braune Seite

Stadtverwaltung im Nationalsozialismus: Münchner Amtsärzte mit dem Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti.

Münchner Amtsärzte mit dem Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti.

(Foto: Stadtarchiv München)

Täter in den Amtsstuben: Die Stadt München lässt die Geschichte ihrer Verwaltung während der NS-Zeit aufarbeiten. Die ersten beiden Bände zeigen: Viele Beamte halfen den brutalen Nazi-Schergen - die meisten blieben nach dem Krieg unbehelligt.

Von Dietrich Mittler

Georg L. durfte nur sechs Jahre alt werden. Im Herbst 1943 veranlasste die Münchner Schulärztin Maria Weber, dass der mit dem Downsyndrom geborene Hilfsschüler in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar überwiesen wurde - "da sich Georgs bettlägerige Mutter nicht um ihren Sohn kümmern könne", wie die Historikerin Annemone Christians recherchiert hat. Gut drei Monate später war der sechsjährige Bub tot, so wie weitere 331 Kinder, die in der sogenannten Kinderfachabteilung der Anstalt um ihr Leben gebracht wurden - durch Nahrungsmittelentzug, die Verweigerung medizinisch notwendiger Behandlungen oder durch tödliche Injektionen.

Über die Ärzte und Pfleger, die in den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reichs in der NS-Zeit in mehr als 100.000 Fällen zu Mördern oder Mittätern wurden, sind beachtenswerte Dokumentationen erschienen, so etwa Bernhard Richarz' Buch "Heilen, Pflegen, Töten" aus dem Jahr 1987. Doch jene Täter und Täterinnen in den städtischen Amtsstuben, auf deren Veranlassung hin Tausende zu Tode kamen, sterilisiert oder ohne medizinische Behandlung weggeschickt wurden, geraten erst jetzt in den Fokus der Forschung - so nun auch in der bayerischen Landeshauptstadt.

Zwei von elf geplanten Studien liegen nun vor, ermöglicht durch ein Kooperationsprojekt der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Stadtarchiv München. Das Projekt trägt den programmatischen Titel "Die Münchner Stadtverwaltung im Nationalsozialismus".

Bei der Präsentation der ersten beiden Arbeiten - darunter Annemone Christians' 374-seitiges Buch "Amtsgewalt und Volksgesundheit" (ISBN: 978-3-8353-1258-6, Preis: 38 Euro) über das öffentliche Gesundheitswesen im nationalsozialistischen München - stellte Oberbürgermeister Christian Ude am Montagabend im Großen Sitzungssaal des Rathauses klar, dass die Forschungsergebnisse der jungen Doktoranden Sprengstoff bergen. "Ab jetzt wird es peinlich, und zwar rotzerbärmlich peinlich", sagte Ude. Und das betreffe alle, die je versucht hätten, die kommunale Selbstverwaltung in der NS-Zeit freizusprechen.

"Die haben ja nur ihre Pflicht getan"

Lange, viel zu lange sei der Kreis der Täter eingeschränkt worden: auf prügelnde SA-Kolonnen, mordende SS-Einheiten und folternde Gestapo-Beamte. Selbst die kritische 68er-Generation habe die Mittäter auf kommunaler Amtsebene übersehen, von denen bislang galt: "Die haben ja nur ihre Pflicht getan."

Doch die Wahrheit ist die: Auch in München als "Hauptstadt der Bewegung" gab es von 1933 bis 1945 bedrückend viele Beamte und Mitarbeiter, die - obgleich sie nicht einmal alle Mitglieder der NSDAP waren - willfährig dabei mithalfen, die Ideologie des Nationalsozialismus im Alltag umzusetzen.

Und dies gilt auch für das öffentliche Gesundheitswesen, wo Begriffe wie "Volkskörper", "Erb- und Rassenpflege", oder "erbbiologische Ausmerze" zur Handlungsmaxime wurden. Amtsärzte, die in der Weimarer Republik noch dem Wohle aller Patienten verpflichtet waren, stellten sich in den Dienst einer perfiden Rassenhygiene, die ihre Schutzbefohlenen in Ballast-Existenzen und leistungsfähige Mitglieder der Volksgemeinschaft einteilte.

Studieren war für "Erbkranke" tabu

Tausendfach wurde das Vertrauen der Patienten ausgenutzt - so auch bei den vielen Zwangssterilisationen, bei denen oftmals Josef Limmer, der Leiter des städtischen Gesundheitsamtes, eine unselige Rolle spielte. Limmer und seine Mithelfer gaukelten betroffenen Männern und Frauen vor, sie hätten weder gesundheitliche, soziale noch berufliche Nachteile zu erwarten.

Eines der Opfer, der unter einer Sehnervschwächung leidende Rudolf R., berichtete 1942 in einem langen Brief an das Münchner Erbgesundheitsgericht, was das Stigma "erbkrank" wirklich bedeutet: Ihm wurde der Zuschuss zu den Ausbildungskosten gestrichen, für Erbkranke könnten keine Beihilfen gewährt werden. Als er 1941 heiraten wollte, bekam er zu hören, "daß meine Ehe im Interesse der Volksgemeinschaft unerwünscht ist". Auch das Studieren war für "Erbkranke" tabu.

Wie im städtischen Gesundheitswesen, so war auch im Bereich der kommunalen Sozialfürsorge der Ungeist der NS-Ideologie eingezogen. Florian Wimmer decouvriert dies im zweiten Band der neuen Studienreihe unter dem Titel "Völkische Ordnung von Armut" (lieferbar von Mai 2014 an). Sichtbar wird ein System, in dem Förderung und Repression Hand in Hand gingen und Menschen, die nicht zur Volksgemeinschaft gezählt wurden, als sogenannte Schmarotzer "mit allen Mitteln" ausgegrenzt wurden.

Nach Kriegsende kamen viele der Täter in den Amtsstuben relativ ungeschoren davon, wie Annemone Christians und Florian Wimmer beweisen können. Josef Limmer zum Beispiel, der frühere Leiter des Münchner Gesundheitsamtes, wurde nur als "Mitläufer" eingestuft.

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