Stadtgeschichte:Herzanfälle und Hochzeitsgeschenke

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"Die Gästeführung wird jetzt als wichtiger Teil der Reise gesehen, genauso wie Flug oder Hotel", sagt Georg Reichlmayr. Um eine Stadtführung von ihm zu bekommen, muss man sie ein halbes Jahr vorher buchen. (Foto: Florian Peljak)

Kaum ein Stadtführer kann die Geschichte Münchens so lebendig erklären wie Georg Reichlmayr. Er weiß, wie wichtig Unterhaltung bei der Wissensvermittlung ist - er bildet neue Gästeführer aus

Von Gerhard Fischer

Dem Gästeführer Georg Reichlmayr eilt, wie man so schön sagt, ein sehr guter Ruf voraus. Menschen, die Führungen bei ihm gebucht haben, schwärmen davon, kenntnisreich informiert und spannend unterhalten worden zu sein. Und einmal rühmte ihn ein Kollege so: "Reichlmayr ist der Thomas Gottschalk der Gästeführer." Das war positiv gemeint. Die Latte liegt also hoch.

Es ist ein regnerischer Frühlingstag, als Reichlmayr, 52, eine Führung in der Residenz anbietet. Er fällt sofort auf, als er in den Eingangsbereich kommt. Reichlmayr ist sehr groß, über 1,90 Meter, und er ist auch von seinem Wesen her so raumfüllend, man kann auch sagen: charismatisch. Er trägt ein braunes Sweatshirt. Auf seiner Homepage ist er auch mit einem Trachtenjanker zu sehen.

Die Führung "König Ludwig I. und der ,neue' Königsbau der Residenz" beginnt um 15.30 Uhr. Eine Viertelstunde vorher sind schon einige Teilnehmer da, unter anderem eine ältere Dame, die versucht, sich zu orientieren. Reichlmayr legt ihr einen Arm um die Schulter. Er kümmert sich, er sucht auch manchmal den Körperkontakt. Nach und nach kommen die 25 Teilnehmer in den Eingangsbereich der Residenz. "Die Führung ist ausgebucht - wie immer", sagt Reichlmayr. Das "wie immer" bezieht sich auf alle seine Führungen.

"Hat irgendjemand Probleme mit dem Bairischen", fragt er, als es los geht. "Nein", kommt aus der Runde zurück. "Das erleichtert die Sache", sagt Reichlmayr. Er gibt schon mal den Ton vor.

Dann geht es in den Königsbau, der zehn Jahre lang restauriert und 2018 wiedereröffnet worden ist. Zunächst muss ein Rokokoraum durchquert werden. Georg Reichlmayr sagt, dass Ludwig I. bei Rokoko "Hautausschlag und Herzanfälle" bekommen hätte; dieser Baustil sei im 19. Jahrhundert nicht mehr vermittelbar gewesen. Reichlmayr geht voran, er geht schnell und er redet so schnell, dass er fast atemlos ist.

Er habe neulich Gäste aus Dresden gehabt, erzählt er, und diese hätten stolz gesagt: "Und wir haben das Grüne Gewölbe." Die Sachsen würden ihr royales Erbe vor sich her tragen. Und die Bayern? Reichlmayr macht eine kurze Spannungspause. "Wenn wir Besuch haben, dann gehen wir mit ihm erst zum Viktualienmarkt, dann in den Franziskaner", sagt er schließlich. "Und beim dritten Weißbier sagen wir dann: Ach, gegenüber ist die Residenz - aber keinen Stress, die steht beim nächsten Mal auch noch." Er lächelt. "Wir Münchner tragen die Residenz nicht vor uns her." Er bleibt vor einer Büste stehen. "Das ist Bayerns dritte Königin: Marie, die aus Preußen kam", sagt er. Dazu gebe es eine schöne Geschichte. Es gehe um die Hochzeitsgeschenke der Berliner Verwandtschaft bei der Vermählung von Marie mit Maximilian II. Joseph, dem Sohn von Ludwig. Er löse das später auf, sagt Reichlmayr. Ein Cliffhanger sozusagen.

Georg Reichlmayr sieht den Gästen in die Augen, wenn er erzählt; manchmal spricht er Einzelne an, um ins Gespräch zu kommen. "Haben wir einen Mathematiker dabei?", fragt er, als es um sehr viele Verwandte im Königshaus geht. Oder: "Haben wir einen Sachsen dabei? Haben wir einen Berliner dabei?" Es ist kein Mathematiker, kein Sachse, kein Berliner dabei. Aber Reichlmayr stärkt damit den Kontakt zu den Gästen.

Die Gruppe durchquert Raum um Raum, goldene Gemächer und riesige Schlafzimmer. Reichlmayr erzählt von Ludwig I., von dessen Goethe-Affinität und vom Ansuchen des Adeligen aus Bayern, den Dichter in Weimar zu besuchen. "Aber Goethe hat ihn warten lassen", erzählt Reichlmayr. "Er hat erst eine Einladung ausgesprochen, als Ludwig vom Prinzen zum König aufgestiegen war - und dann galt diese Einladung erst für in zwei Jahren." Schließlich rezitiert Reichlmayr ein Gedicht aus Goethes Faust. Es wirkt nicht affektiert.

Weiter in den nächsten Raum. Reichlmayr sagt, dass Kaiserin Elisabeth, die Sisi, Shakespeare ins Altgriechische übersetzt habe; dass Ludwig I. ungeheuer viel Geld ausgegeben habe für viele Prunkbauten in Bayern und sein Enkel Ludwig II. dagegen ein Waisenknabe gewesen sei mit seinen "drei Sandkastenburgen" Neuschwanstein, Linderhof und Herrenchiemsee; und Reichlmayr betont mit viel Leidenschaft, wie wichtig die Vergangenheit für die Gegenwart sei. Eine Frau will am Ende klatschen, bricht aber schnell wieder ab. Es war ein Reflex, weil die Rede, es war fast ein Plädoyer, so gut gewesen ist.

Aber wie war das noch mit Königin Marie und den Geschenken aus Berlin? Die Gruppe ist im letzten Raum der Führung angekommen. Hier ist viel Porzellan zu sehen. Die Hochzeitsgeschenke! Maries Vater, Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, schenkte der bayerischen Verwandtschaft ein opulentes Service - auf den kleinen Tellern und Tassen waren bayerische Motive abgebildet (Gebirgslandschaften, Kirchen), und auf den großen preußische Motive. "Je größer, desto Berliner", sagt Reichlmayr und lacht. "Das war eine bodenlose Unverschämtheit."

Langer Applaus. Nicht für den Preußen-Prinzen, sondern für Georg Reichlmayr. "Wenn wir uns was Gutes tun wollen, machen wir eine Führung bei Reichlmayr", sagt eine Frau. "Allerdings muss man bei ihm schon ein halbes Jahr im Voraus buchen."

Zehn Minuten später sitzt Georg Reichlmayr in einer Espresso-Bar, zwei Minuten von der Residenz entfernt. Er bestellt eine Cola. Es war seine dritte Führung an diesem Tag. Er wirkt ein wenig erschöpft. Das mit dem "Thomas Gottschalk der Gästeführer" hört er nicht gerne, sagt er gleich. "Die Führungen haben Bühnencharakter, richtig, und es gibt Kollegen, die Entertainer sind, aber ich bin es nicht." Diese Kollegen, sagt er, machen "gesangliche Einlagen oder animieren die Gäste, dass sie in Nymphenburg improvisiertes Theater aufführen". Er sagt es sachlich, und es wird nicht klar, ob er das gut findet. Er selbst empfindet es als größtes Kompliment, wenn die Gäste während der Führung nicht aufs Telefon schauen. "Wenn sie zwei Stunden aus dem Alltag raus sind."

Georg Reichlmayr stammt aus der Oberpfalz. Als er während der Führung in der Residenz über die Bildung der Adeligen und den Alltag der einfachen Leute sprach, die wenige Kilometer entfernt in der Au lebten, sagte er: "Meine Eltern waren Bauern - wenn wir das Heu reinholen mussten, war die Schule auch nicht so interessant." Das Abitur machte er trotzdem. Er studierte Geschichte und Germanistik, schrieb eine Dissertation mit dem Schwerpunkt Papstgeschichte im Mittelalter - und arbeitete danach beim Kabinenpersonal einer Fluggesellschaft.

Dann machte er eine viermonatige Ausbildung zum Gästeführer. Beim Fremdenverkehrsamt, wie "München Tourismus" damals noch hieß. "Ein zertifizierter Gästeführer hat die Zulassung für alle Schlösser, Museen und Kirchen", sagt Reichlmayr. "Es gibt etwa 230 Kollegen mit dieser Ausbildung in München und - meiner Schätzung nach - noch einmal so viele ohne, das ist ein Riesenmarkt." Gästeführer ohne Zertifikat dürfen nicht in Schlösser, Museen und Kirchen.

Als Reichlmayr vor 20 Jahren seine Ausbildung beendet hatte, vermittelte die Stadt die erste Führung. Er weiß nicht mehr, worum es ging, nur noch, dass er Englisch sprechen musste. "Es war eine Herausforderung, erstens in einer Fremdsprache, zweitens nicht mehr in der Schulungssituation und drittens immer präsent sein", sagt er. "Da können zwei Stunden richtig lang werden." Reichlmayr versuchte von Anfang an, unterhaltsam zu sein. "Die Gäste merken sofort, ob dem Gästeführer die Führung Spaß macht."

Auch Gästeführer können etwas haben, was Künstlern oder Sportlern zugeschrieben wird: einen Durchbruch. Reichlmayr spielt heute quasi in der Bundesliga, wann war also der Durchbruch?

Georg Reichlmayr wirkt in der Espresso-Bar anders als bei der Führung. Er ist ruhiger, er macht keine Anstalten, Pointen zu setzen. Manchmal überlegt er auch einen längeren Moment, bevor er antwortet. Doch bei der Frage nach dem Durchbruch kommt die Antwort schnell.

"Das war 9/11", sagt er. "Der Klassiker." Nachdem am 11. September 2001 zwei Flugzeuge ins World Trade Center krachten, wollten die Menschen nicht mehr fliegen. "Sämtliche englischsprachigen Führungen fielen für uns weg", sagt Reichlmayr. "Der Amerikatourismus in München brach ein."

Reichlmayr suchte sich ein neues Zielpublikum: Einheimische. Er schnitt Programm und Führungen auf sie zu. Heute kommen 95 Prozent seiner Gäste aus München und Umgebung, viele über Bildungsträger: VHS Oberhaching, VHS Indersdorf, VHS Gröbenzell, die Liste auf seiner Homepage ist lang. "Das geht vermutlich über die Zufriedenheit der Teilnehmer und die Mundpropaganda", sagt Reichlmayr, "und die funktioniert natürlich in München besser, als wenn die Gäste aus dem Ausland oder aus Niedersachsen kommen und nach der Führung wieder abreisen."

Reichlmayr schaut auf die Uhr. Er muss gleich weg. Abends ist eine Veranstaltung des Berufsverbands der Gästeführer. Georg Reichlmayr ist im Bundesvorstand und stellvertretender Vorsitzender des Verbandes in München.

Aber noch hat er ein bisschen Zeit. Er erzählt von seiner Arbeit als Ausbilder. Reichlmayr ist vor allem für den praktischen Teil zuständig, etwa für die Stadtrundgänge. Er sagt, die heutige Ausbildung sei mit der, die er absolvierte, nicht mehr zu vergleichen. "Damals wurde der Gästeführer als Hausfrauenjob gesehen, der nebenbei erledigt wird", sagt er. Heute sei die Ausbildung umfangreicher, intensiver und anspruchsvoller, und sie laufe seit zehn Jahren unter EU-Zertifikat. Manchmal gibt es hundert Bewerber, aber nur 20 werden genommen. Ein Studium oder eine abgeschlossene Berufsausbildung sei wünschenswert. "Die Gästeführung wird jetzt als wichtiger Teil der Reise gesehen, genauso wie Flug oder Hotel", sagt Reichlmayr. "Wenn die Touristen Spaß daran haben, finden sie die Destination gut."

Was war denn seine beste Führung, die lustigste, die ultimative? Die, die man nicht vergisst?

Reichlmayr zögert. Wieder macht er keinen Witz, um die Stille zu überbrücken. Wieder ist er anders als bei der Führung. Er mache gerne Literaturführungen, auch, weil er selbst gern liest, sagt er dann. Oder Wissenschaftsführungen an der Technischen Hochschule in Garching, weil er da selbst viel dazulerne.

Aber die eine, die ultimative Führung?

Er schüttelt den Kopf. Nur einen Tag, den werde er nicht vergessen, sagt er schließlich. Den Tag nach dem Abend, als im April 2005 in Rom der Rauch aufstieg und aus Joseph Aloisius Ratzinger Papst Benedikt wurde. "Da klingelten ab acht Uhr morgens bei mir und den Kollegen die Telefone", erzählt Reichlmayr. "Es waren meistens Journalisten, die Informationen und Führungen auf den Spuren Benedikts wollten: Wo hat Ratzinger in München gepredigt, wo ist er als Erzbischof von München gewesen?"

Er habe dann "mit minimalster Vorbereitung" Führungen gemacht. Sicher hat er dabei nicht aufs Telefon geschaut. "Dieser Tag", sagt er, "war ausgesprochen spannend für mich."

© SZ vom 28.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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