Sie könnten jetzt mit ihren Freunden im Biergarten sitzen, einen Film gucken, Sport machen. Aber Dana und Elisa sitzen immer noch hier, im ersten Stock der Stadtbibliothek Sendling, schon seit Stunden. Mit Büchern vor sich, einer Tasse Tee und einer Schale mit Studentenfutter. Es ist Viertel vor neun, draußen ist es dunkel, vier Tische sind noch besetzt. Da kann der Tag noch so hell und sonnig gewesen, die Lust auf laue Abende noch so groß sein - Kurven wollen berechnet, Gedichte interpretiert, Binärbäume gezeichnet werden. Mathe, Deutsch, Informatik - es bleibt nur noch wenig Zeit: Dann beginnt in Bayern das Abitur.
Rund 37 000 Schüler in Bayern lernen in diesem Jahr für das Abitur: drei schriftliche Prüfungen, die erste am Dienstag, 30. April, danach zwei mündliche. Ende Mai beginnt dann das Fachabitur, im Juni und Juli folgen die Abschlussprüfungen an den Realschulen und der Quali. Münchens Schüler lernen in diesen Wochen so viel wie nie. Und die Münchner Stadtbibliothek will sie darin mit längeren Öffnungszeiten unterstützen. "Late Night Lernen" heißt das Angebot: Von Anfang April bis Ende Juni schließen ausgewählte Bibliotheken in den Stadtteilen erst um 21 Uhr.
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Eda und Nermin reden leise miteinander, sie sitzen sich gegenüber an einem Tisch am Fenster der Stadtbibliothek am Harras. Neben ihnen reihen sich Bücher zum Europarecht, zu Einkommens- und Lohnsteuer und Wirtschaftstheorie. Blöcke, Bücher und ein Apfel liegen zwischen den beiden Freundinnen, sie arbeiten sich durch die Abiturprüfungen der vergangenen Jahre, an diesem Tag ist Mathe dran, Geometrie. Analysis haben sie schon durch, Stochastik steht ihnen noch bevor. "Mathe war schon immer ein Problem für mich", sagt die 17-jährige Eda. Deshalb war sie heute schon beim Intensivkurs, danach kam sie direkt in die Stadtbibliothek, weiterlernen.
"Hier kann ich viel besser lernen als zuhause", sagt Eda. Sie war letztes Jahr schon da, um für ihre Klausuren zu lernen. "Ich mag die Atmosphäre, es motiviert mich, wenn alle um mich herum lernen." Nermin nickt und sagt: "Zuhause lenkt mich viel mehr ab. Hier kann ich mich besser konzentrieren." Noch dazu, wo an dem Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebt, gerade gebaut wird. Nermin ist seit 10.30 Uhr in der Bibliothek und sie wird bleiben, bis um 21 Uhr die Türen schließen.
Die beiden wohnen in der Nähe, sie besuchen das Klenze-Gymnasium, ein paar Hundert Meter von der Stadtbibliothek entfernt. "Hier sieht man immer das ganze Klenze", sagt Eda. "Alle, die Abi machen, lernen hier." Sie wollen beide studieren, Nermin weiß auch schon was: Medizin. "Das ist mein Traum", sagt die 18-Jährige. Menschen dabei helfen, wieder gesund zu werden; verstehen, wie der Körper funktioniert - für das große Ziel gilt es jetzt zu lernen, ohne Abi kein Medizin-Studium.
"Ich hol' Chai", sagt Eda zu Nermin und steht auf, geht zu dem Servierwagen, auf dem Thermoskannen mit heißem Wasser, eine Schale mit Teebeuteln, Äpfel und Schälchen mit Studentenfutter stehen. Ein paar Snacks, um die Lernenden bei Laune zu halten. "Wir haben uns für die gesunde Variante entschieden, und die mit wenig Müll", sagt Katja Hahn. Ihre Kollegen und sie haben das vorbereitet, auf einen zweiten Wagen haben sie verschiedene Bücher zur Abitur-Vorbereitung gelegt: Biologie, Chemie, Geschichte, Erziehungswissenschaft, Philosophie.
Katja Hahn ist als Bibliothekarin in Sendling zuständig für Kinder und Jugendliche, ihre Bibliothek beteiligt sich zum dritten Mal beim Late-Night-Lernen. "Wir haben gemerkt, dass die Schüler sich bei uns treffen. Dass sie Orte brauchen, wo sie gemeinsam lernen können." Nicht jeder habe ein eigenes Zimmer oder könne zuhause ungestört lernen. "Bei uns muss man nicht konsumieren, hier wird niemand nach zwei Stunden weggeschickt", sagt sie. "Die Bibliothek ist mehr als ein Ort, wo man Bücher bekommt."
Die Bibliothek als dritter Ort neben dem Zuhause und der Arbeit, das ist die Idee dahinter. Hier soll sich jeder wohlfühlen, Senioren, Mütter, Studenten. Und eben auch die Schüler. In der Bibliothek am Hasenbergl beraten im Juni Lehrer der Volkshochschule Schüler in Deutsch, Englisch und Mathematik. Und im Gasteig können Schüler, die an ihrer Seminararbeit schreiben, die Hilfe eines Recherche-Profis in Anspruch nehmen. Eine halbe Stunde ist der dann nur für sie da und hilft, Literatur und Informationen zu suchen.
Weil das auch für Jugendliche, die in einer digitalen Welt aufgewachsen sind, gar nicht so leicht ist, geben Katja Hahn und ihre Kollegen auch spezielle Seminare für Schulklassen. "Wissen wie" heißt der Kurs, in dem sie den Schülern zwei Stunden erklären, wie eine Onlinesuche jenseits von Google funktioniert. Die beginnt nämlich schon mit der Wahl der Suchbegriffe. Damit, das Thema in Komponenten zu zerlegen, Synonyme zu finden, Ober- und Unterbegriffe auszuprobieren. "Es gibt dann oft ein Aha-Erlebnis", erzählt Katja Hahn. "Die Schüler merken: Es gibt ja doch was zu meinem Thema."
"Ich bin viel produktiver als zuhause"
Um acht Uhr abends ist es ruhig in der Bibliothek in Sendling. Still ist es nicht: Die Fenster sind gekippt, der Verkehrslärm vom Harras rauscht hinein, Autos hupen, Menschen lachen. Auf der anderen Seite des Gebäudes zwitschern die Vögel, irgendetwas klackert leise, vielleicht eine Neonröhre. Die Schüler blättern in ihren Unterlagen, knipsen ihre Kugelschreiber-Minen rein und raus. Leise telefonieren ist hier erlaubt, Katja Hahn und ihre Kollegen sind nicht so streng wie in der Staats- oder der Unibibliothek.
Lucas ist an diesem Abend zum ersten Mal da, der 18-Jährige lernt für sein Informatik-Abitur. "Ich bin viel produktiver als zuhause", stellt er fest. Ein paar Tische weiter sitzt Elisa. Sie lernt für das Deutsch-Abi, auch sie wohnt ganz in der Nähe. "Ich komme sehr gerne her", sagt sie. "Schade, dass die Bibliothek sonst immer schon um sieben schließt." Dana wohnt in Harlaching, sie trifft sich hier mit Freunden zum Lernen. Die sind schon vor einer Stunde nach Hause gegangen. Sie bleibt, sie will heute noch Mathe abschließen.
Ein Mann mit Kopfhörern sieht aus, als ob er seine Abizeit schon eine Weile hinter sich hätte. Er sitzt am Laptop, vor sich Zettel mit winzig kleinen chinesischen Schriftzeichen. In drei Monaten schreibt er seine Chinesisch-Prüfung, erzählt der 42-Jährige. "Ich genieße die Zeit hier, für mich ist es genau die richtige Uhrzeit zum Lernen."
Es ist zehn vor neun, Nermin blättert in ihrem Buch, Dana fasst sich an die Stirn und prüft ihre handgeschriebenen Zusammenfassungen. Der Mann mit den Kopfhörern spricht leise vor sich hin, Elisa tippt etwas in ihr Handy. Eine Mitarbeiterin sagt, es sei bald Zeit zu gehen. Die Lernenden schließen ihre Bücher, ziehen die Handyladegeräte aus den Steckdosen, stellen ihre Teetassen zurück auf den Wagen. Um kurz vor neun schließt Katja Hahn die Fenster, schaltet das Licht aus, räumt mit ihrer Kollegin die Spülmaschine ein und schließt um kurz nach neun die Türen ab. Jetzt ist es wirklich still in der Bibliothek.