Jugendarrest Stadelheim:"Lesen ist das Einzige, was ich hier machen kann"

Jugendarrest Stadelheim: Der Arrest soll die Jugendlichen auch zum Nachdenken bringen. Und er bietet ihnen auch Zeit, sich mit einem Buch zu beschäftigen.

Der Arrest soll die Jugendlichen auch zum Nachdenken bringen. Und er bietet ihnen auch Zeit, sich mit einem Buch zu beschäftigen.

(Foto: Claus Schunk)

Münchner Studenten wollen straffällig gewordenen Jugendlichen Bücher wieder näher bringen. Der Besuch im Gefängnis lässt sie in eine andere Welt eintauchen.

Reportage von Isabel Bernstein

Manchmal ist selbst im Gefängnis Platz für Träume. Mischa träumt davon, mit seiner Freundin in Monaco zu leben, Sara freut sich auf ein Candle-Light-Dinner mit ihrem Liebsten, und David will es in einem Hotelzimmer mit einer Flasche Schampus krachen lassen, wenn "das hier" vorbei ist. "Das hier", das sind die hohen roten Mauern des Jugendarrests Stadelheim, die Gitterstäbe vor den Fenstern, die Türen, die nur das Sicherheitspersonal öffnen kann.

Bei David ist es bald so weit: In 47 Stunden ist er draußen, das hat ihm gerade der Jugendrichter mitgeteilt. Dass die Jugendlichen in dieser Umgebung zumindest für kurze Zeit ins Träumen geraten, liegt auch an dem Buch, das sie in den Händen halten. Nicht, dass "No Exit" selbst zum Wegträumen einladen würde, im Gegenteil: Das Buch handelt von Drogen, Frustsaufen, gescheiterten Familien, Gewalt und Tod. Doch es lenkt vom eintönigen Alltag im Arrest ab. Lesen, sagt Lukas, der seit zwei Wochen einsitzt, "das ist das Einzige, was ich hier machen kann".

Drei Tage zuvor. Nadine Jene und Luise Cornelli geben ihre Ausweise an der Pforte der Justizvollzugsanstalt (JVA) ab, schließen ihre Taschen in einen Spind und passieren den Metalldetektor. Die zwei Studentinnen sind für das Projekt Kontext nach Stadelheim gekommen. Ein Sicherheitsbeamter holt die zwei Studentinnen ab, bringt sie zu ihrer Gruppe. Das dauert: Erst, wenn alle Türen im gesicherten Eingangsbereich geschlossen sind, öffnet sich die nächste Tür. Es geht durch künstlich beleuchtete Flure, in die kaum Tageslicht fällt, vorbei an den kargen Einzelbesuchsräumen des Frauenknasts. Die Tür zu einem dieser Zimmer steht offen. Darin sitzt: Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im NSU-Prozess.

Nadine Jene macht kurz große Augen, aber überrascht ist sie nicht. Sie wusste, dass die Rechtsterroristin in Stadelheim sitzt, hat sie dort schon einmal gesehen. Die 27-Jährige hat bereits häufiger Lesegruppen im Jugendarrest geleitet. Sie ist beim Leseprojekt dabei, seit sie 2014 ein Seminar dazu an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) belegt hat. "Ich finde es spannend, an einem Ort zu arbeiten, der nicht jedem so leicht zugängig ist", sagt sie. Inzwischen benötigt sie die Teilnahme an der Projektarbeit zwar nicht mehr für ihr Studium der Lernbehindertenpädagogik, aber sie macht ehrenamtlich weiter. Sie will etwas Praktisches machen neben dem eher theorielastigen Studium. Gleiches gilt für Luise Cornelli, die an der LMU Jura im dritten Semester studiert. Für die 20-Jährige ist es erst der zweite Einsatz.

Der Raum im Jugendarrest, in den die zwei gebracht werden, wirkt wie ein spärlich eingerichtetes Schulzimmer: eine Tafel an der Wand, PVC-Boden, ein paar zur Seite geräumte Tische, abgestandene Luft. An Tür und Schrank hängen selbstgemalte Bilder, ein Plakat ruft zu gegenseitigem Respekt auf. Ob sich dieser Ort für offene Gespräche eignet? Die zwei Studentinnen bauen einen Stuhlkreis auf, öffnen die Fenster. Hinter den Gittern ziehen Jugendliche vorbei, sie haben gerade Hofgang. Wer von ihnen gleich zur Lesegruppe kommt und weshalb sie im Arrest sitzen, wissen die zwei Studentinnen nicht. Sie werden nur das erfahren, was die Teilnehmer von sich aus preisgeben.

Jugendarrest Stadelheim: Die Studentinnen Luise Cornelli (links) und Nadine Jene arbeiten freiwillig für das Projekt. Sie hoffen, dass die Bücher den ein oder anderen Teilnehmer ins Nachdenken bringen.

Die Studentinnen Luise Cornelli (links) und Nadine Jene arbeiten freiwillig für das Projekt. Sie hoffen, dass die Bücher den ein oder anderen Teilnehmer ins Nachdenken bringen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Für Caroline Steindorff-Classen ist genau das die Chance des Leseprojekts: dass die Studenten den jungen Straftätern auf Augenhöhe begegnen. "Das kennen die Jugendlichen oft nicht." Die Professorin hat Kontext 2011 an der Hochschule München ins Leben gerufen und später auf die LMU ausgeweitet. Inzwischen finden pro Jahr etwa 100 Lesegruppen mit jeweils zwei Treffen in den Jugendarresten in Stadelheim und Landshut sowie in der Untersuchungshaft der JVA Stadelheim statt.

Steindorff-Classen weiß, dass sich viele Insassen im Arrest erst einmal mangels Alternative für das Projekt melden, sie sagt auch, "es ist naiv zu glauben, dass mit der Lesegruppe der Hebel" im Leben der Jugendlichen umgelegt wird. Aber in Stadelheim habe man die Chance, die Jugendlichen einmal zu erwischen und ihnen das Lesen wieder nahezubringen. Lesen fördert Empathie, das haben Studien gezeigt. Wer weiß, vielleicht regen Bücher wie "No Exit" den ein oder anderen im Jugendarrest zum Nachdenken an? Und nicht zuletzt lernen auch die Studenten bei den Treffen eine Menge, sagt Steindorff-Classen: "Sie kommen mit Thematiken in Kontakt, die sie nicht kennen."

Lesen hilft zu sprechen - auch über schwierige Themen

Das sieht auch Nadine Jene so: "Die Arbeit erdet mich." Wenn sie sehe, womit die Jugendlichen im Arrest zurechtkommen müssen, "dann weiß ich mein sorgloses Leben mehr zu schätzen". Sie ist etwa zehn Jahre älter als die sechs Jugendlichen, die ihr nun im Stuhlkreis gegenüber sitzen. Der gegenseitige Respekt ist zu spüren: Man duzt sich, lässt sich ausreden, und gleich zu Beginn bombardieren die Jugendlichen die zwei Studentinnen mit Fragen. Berührungsängste? Fehlanzeige. Was sicherlich zur offenen Atmosphäre beiträgt: Was in dem Raum gesprochen wird, bleibt auch dort. Nadine Jene und Luise Cornelli sind zu Verschwiegenheit verpflichtet.

Die beiden haben "No Exit" ausgesucht in der Hoffnung, dass sich die Jugendlichen mit dem Protagonisten, dem 15-jährigen Jim, identifizieren können, seine Probleme nachvollziehen können. Er wird von seinem gewalttätigen Vater geschlagen, fängt an zu trinken und zu stehlen, hängt mit falschen Freunden herum, gerät immer mehr auf die schiefe Bahn. Nadine Jene und Luise Cornelli lesen einzelne Auszüge mit den Jugendlichen und stellen dann Fragen: Wie können sich Kinder gegen gewalttätige Eltern wehren? Ist man als älterer Bruder oder Schwester in der Verantwortung einzugreifen? Kann Klauen in manchen Situationen okay sein? Damit wollen sie erreichen, dass sich die Teilnehmer in den Protagonisten hineinversetzen, sich hinterfragen, ob ihr Verhalten ähnlich sein würde.

Kontext

Das Projekt Kontext wurde 2011 von Professorin Caroline Steindorff-Classen an der Hochschule München (HM) entwickelt und richtete sich zunächst vor allem an Studenten der Sozialen Arbeit. 2013 wurde es auf die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) ausgeweitet. Die Lesegruppen sind nur ein Teil des Angebots. Sie werden von zwei Studenten geleitet, die für zwei Termine in den Justizvollzugsanstalten München und Landshut kommen. In Textwerkstätten können Jugendliche Lektüreinhalte in eigenen Gedichten oder Songtexten verarbeiten. Das Leseprojekt betreibt in Stadelheim eine Arrestbücherei, in der knapp 200 Bücher aus unterschiedlichen Themenbereichen ausgeliehen werden können. Auch gibt es im Jugendarrest München Bildungsmaßnahmen für Toleranz gegen Ausgrenzung und ein Programm für Schulverweigerer.

Zum Portfolio von "Kontext" gehört auch die Begleitung von Leseweisungen. Anders als die Lesegruppen findet diese Einzelbetreuung an der HM oder LMU statt, lediglich die Lektüre des Buchs soll der Jugendliche selbständig zu Hause erledigen. Die Teilnahme an den Leseweisungen ist nicht freiwillig: Sie wird von einem Jugendrichter angewiesen oder der Staatsanwaltschaft angeordnet. imei

Manchen Heranwachsenden lässt das ins Erzählen kommen. Franziska zum Beispiel darüber, dass sie ihre Mutter als kleines Mädchen verloren und ihre Geschwister teils mit aufgezogen hat. Sie würde gerne Kinderpflegerin werden, will sich nun aber zur Frisörin ausbilden lassen. Warum? "Glauben Sie, dass uns noch jemand als Kinderpfleger nimmt mit unserer Vorgeschichte?"

Oder Lukas, der zugibt, schon darüber nachgedacht zu haben, einfach wegzugehen und anderswo neu anzufangen. Was ihn davon abgehalten hat? "Meine Familie." Er wirkt nachdenklich. Dann sagt er: "Ich habe meine Mutter schon so oft enttäuscht. Manchmal frage ich mich, ob es besser für sie wäre, wenn ich weg wäre."

Auch für die anderen sind Gedanken an einen Neustart nicht fremd. Sara ist sogar schon einmal nach Hamburg abgehauen, einfach eingestiegen in den Zug, ohne viel Geld in der Tasche. "Für einen Neustart muss man sich zum Teil zurücklassen", sagt sie. Bei ihr hat das nicht geklappt; doch irgendwann will sie ihr Glück noch einmal in Hamburg versuchen.

In manchen Momenten ist der Frust der Jugendlichen zu spüren. Darüber, eingesperrt zu sein, über schlechtes Essen, über verwehrten Freigang und über angebliche Schikanen des Sicherheitspersonals. Ein Stück weit ist das auch gewollt: In den Arrest kommen junge Straftäter, bei denen einfache Weisungen und Auflagen nicht genügen, um sie von weiteren Delikten abzuhalten. Ihnen soll vor Augen geführt werden, wohin sie ihr Weg führt, wenn sie sich nicht ändern. Im Schnitt sitzen in Stadelheimer Arrest viermal so viele junge Männer ein wie Frauen. Vor allem in den Ferien sind viele der 60 Plätze belegt.

Für den Protagonisten Jim endet das Buch damit, dass er völlig abstürzt. "Wie? Im Buch gibt es doch immer ein Happy End ...", sagt Mischa, als das zweite Treffen der Lesegruppe zu Ende ist. Vielleicht ist das eine Lektion des Buches, die die Jugendlichen mitnehmen können: dass es nicht reicht, nur von einem guten Ende zu träumen.

Die Namen der Jugendlichen wurden von der Redaktion geändert.

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