Wie wird man eigentlich Theaterfotograf? Erster Versuch einer Erklärung. Wilfried Hösl war sechs Jahre alt, die Familie lebte in Schwarzenfeld, das ist dort, wo die Schwarzach in die Naab mündet, Oberpfalz. Es stand im Hause Hösl ein Ereignis bevor, die Geburt der Schwester Wilfrieds. Damals, Anfang der Sechzigerjahre, sollte das eine Hausgeburt werden, üblich, auf dem Land erst recht. Also wurde der kleine Wilfried mit geschwisterlicher Aufsicht ins Theater geschickt, „damit wir der Sache nicht beiwohnen müssen“.
Das allein ist ja schon erstaunlich, dass man damals in Schwarzenfeld, heute rund 6400 Einwohner, ein Kind ins Theater schicken konnte, damit es sich nicht bei der Geburt des familiären Zuwachses erschreckt. Gegeben wurde „Lumpazivagabundus“, und während der Aufführung beobachtete Wilfried einen schwarz angezogenen Mann, der immer im Hintergrund der Bühne herumhüpfte. Wilfried fragte sich: Sehen den die anderen? Sehe nur ich den? Und warum? Vielleicht hat sich damals schon etwas aufgeprägt, was Wilfried Hösl viele Jahre später so beschrieb: Ja, er sei ein privilegierter Zuschauer, er kenne das Stück, lese auch gegebenenfalls die Romanvorlage, kenne die Inszenierung, die er fotografiert, er wisse, wann er wo hinschauen muss. Und schaut dann halt manchmal dorthin, wo gerade kein Zuschauer hinblickt. „Die Theaterfotografie schafft ihre eigene Wirklichkeit, obwohl sie in der Hauptsache die Wirklichkeit der Bühne wiedergeben soll.“ Nachzulesen in einer Festpublikation zu den Münchner Opernfestspielen 2005.

Ende der noch einen Monat laufenden Saison geht Wilfried Hösl, geboren 1957 in Altendorf (unweit von Schwarzenfeld), endgültig in Ruhestand. 1983 kam er als Fotograf ans Bayerische Staatsschauspiel, zehn Jahre später wechselte er zur Staatsoper, 1996 kam das Ballett noch dazu. Derzeit ist im hinteren Foyer des Nationaltheaters – die früher sogenannte Aussegnungshalle, die zum Marstallplatz führt – eine Ausstellung mit Fotos von ihm zu sehen. Bühnenszenen, Fotos von Tourneen, viele Porträts. Im Herbst erscheint bei Schirmer & Mosel ein Bildband ihm zu Ehren, Titel „On Stage“.
Wilfried Hösl sagt, er habe mehr als 500 Premieren fotografiert, von jeder 1000 Fotos gemacht. Und er erweckt sehr überzeugend den Eindruck, er habe jede dieser 500 Premieren noch im Kopf, jeden Namen, jede Rolle. Er wäre eine herrliche Quelle für Klatsch und Tratsch aus dem Opern-, Theater- und Ballettbetrieb, er bekam ja alles mit bei den Proben. Jeden eigenwilligen Schauspieler, jeden komplizierten Regisseur, jede überbordende Operndiva. Aber er taugt nicht für Gossip. Überhaupt nicht. „Ich bin ein zurückgezogener Mensch“ – also muss man ihm ein paar lustige Sachen abringen. Dass Jonas Kaufmann, der selbst eine Leica hat, sich gleich für Hösls Kamera interessierte. Dass es bei Porträtfotos der extrem publicityscheuen Asmik Grigorian von Vorteil war, dass er ein Foto vom Marina Abramović dabei hatte – „she’s my hero“, die Aufnahmen liefen bestens. Dass er nach dem ersten Akt „Turandot“ Anna Netrebko Fotos von ihr zeigte – und die diese gleich auf ihren Instagram-Kanal stellte. „Sie war immer zugänglich, immer unkompliziert.“ Die erste Begegnung mit Netrebko war 2004, die „Traviata“. Auch damals zeigte ihr Hösl Fotos, zehn Minuten vor dem Auftritt, sie guckte, sagte, sie müsse kurz noch auf die Toilette, kam zurück, guckte noch einmal drauf, fünf Minuten – und raus auf die Bühne.
Natürlich entsteht da eine Nähe. Vielleicht sogar ein klein bisschen ein erotisches Fluidum manchmal. Aber Hösl hat immer Distanz gewahrt, aus Respekt und Scheu, auch wenn das Fotografieren ja immer eine Beschäftigung mit anderen Menschen ist. Und: „Die Großen sind am einfachsten; die können ihren Job.“ Stimmt.
Beim Treffen mit Hösl in einem sardischen Lokal ist die Vorspeise längst durch, die Hauptspeise auch, bis das Gespräch langsam überhaupt erst Richtung Theater einmündet. Anderes ist ihm wichtig, außerdem hat man den Eindruck, es ist ihm fast peinlich, mit wem er zusammenarbeitete, wen er alles fotografiert hat. Also verharrt das Ganze erst einmal weiter in der Oberpfalz. Die Mutter Hausfrau, der Vater Schreiner, aber er hatte eine Voigtländer-Kamera. Beim einzigen Familienausflug, Wilfried war zwölf und es ging mit dem Fiat an den Tegernsee, machte der Vater Fotos, genauer: Dias. Agfa-Gevaert. Zu Hause gab es keinen Fernseher, Wilfried lieh sich stattdessen Bildbände aus der Bücherei aus, wanderte darin in ferne Länder. Als er später in Köln Fotografie studierte, kannte er alle relevanten Fotobücher.
Die vielen Bücher schafft er jetzt nach Schwarzenfeld, dort ist Platz. Dann kann er auch die Glocken mal wieder hören, die er vermisst. Früher wanderte er durch das Schwarzach-Tal, machte, natürlich, Fotos. Jahre später gestaltete Hösl drei Mal ein Cover für das Label ecm. Auf einem sieht man Wolken. Es sind die Wolken über dem Baggersee von Schwarzenfeld.

Zweite Station auf dem Weg ins Theater. Köln. War damals die europäische Hauptstadt der Fotografie, nur wusste Hösl das nicht, erzählt er, als er zum Studium (Fotoingenieur) dort hinging. Später war er selbst Dozent, 13 Jahre in Salzburg, 1997 bis 2010, „bis die Leute mit ihren Handys kamen“. Aber erst mal Köln. Auch überm Rhein drüben war viel Kunst, Beuys und die Bechers zum Beispiel – Bernd und Hilla Becher liebten es, alte Zechen und Wassertürme zu fotografieren. Sehr viele Wassertürme. Sehr viele Bildbände, erschienen wo? Schirmer & Mosel.
Hösl fuhr also mit Vaters Auto nach Köln, inzwischen war es ein Opel Kadett – „mein Vater fand das gar nicht gut, der Bua wird Künstler“. Als er dann später die Fotos vom Bua in der Zeitung sah, war er halt dann doch stolz. In Köln assistierte der Bua bei zwei Fotografen, der eine machte Coverfotos für Capital, der andere Fotos für die Rüstungsindustrie. Hösl blieb nicht lang. Und ging nach München, wo er eigentlich seit seiner Kindheit hinwollte. Friedrichstraße, im Haus hat mal Helmut Dietl gewohnt.

Jetzt wird’s schwierig. Denn je näher man der Kunst kommt, desto rasanter läuft die Assoziationsmaschine in Wilfried Hösls Kopf. Da kann er dann auch gleichzeitig über die Bücher von Haruki Murakami und Schumanns Klavierzyklus „Carnaval“ reden – was ist die beste Aufnahme, Kempff, Argerich? Argerich. Dazu kann man kurz einwerfen, dass Musik für Hösl immer wichtig war, aber lange Zeit vor allem Kammermusik, das mit der Oper kam erst später.
Erst kam Frank Baumbauer. Der war damals Schauspieldirektor des Bayerischen Staatsschauspiels. In der Hohenzollernstraße las Hösl einen Zettel: Theaterfotografin sucht Assistenten. Und fand sich im April 1983 im Residenztheater wieder. Machte erste Fotos im Theater. Ingmar Bergman, der dort gerade arbeitete, war begeistert, auch andere sagten, das seien die besten Theaterfotos, die sie je gesehen haben. Baumbauer sagte: „Wollen Sie den Job?“ Und so wurde Wilfried Hösl Hausfotograf in sozusagen staatlichen Diensten und blieb es bis heute.



Erinnert sich Hösl an seine Anfänge am Residenztheater, ersteht eine vergangene Theaterwelt neu. Er erzählt von Peter Brombacher und Sepp Bierbichler, Gustl Bayrhammer, der sich vom Regisseur nicht viel sagen ließ, weil er eh bald den nächsten „Pumuckl“ drehte. Toni Berger war damals auch mit von der Party, Wilfried Minks wollte bei diesen Kerlen Regie führen, a geh Willy, wir machen das schon. Bierbichler extemporierte über die Apartheid in Südafrika, Hösl lief mit Achternbuschs „Gust“ im Kopf durch München. Frank Castorf debütierte in München, Leander Haußmann inszenierte „Romeo und Julia“, Andras Fricsay Kali Son knallte die legendären „Räuber“ mit der Halfpipe ins Prinzregententheater, wo das Staatsschauspiel unterkam, als das Residenztheater renoviert wurde. Eine wilde, aufregende Zeit, „man hat den Job sehr ernst genommen“. Damals begann auch die eigene Theatersozialisation dieses Autors. Mithin kann man feststellen, dass Wilfried Hösl einen dabei von Anfang an begleitete.
Vielleicht wäre Hösl immer noch am Resi, wäre nicht Sir Peter Jonas 1993 Staatsopernintendant geworden. Ulrike Hessler, damals die PR-Chefin, suchte ein halbes Jahr vor Jonas’ Antritt einen neuen Fotografen. Dieter Dorn inszenierte gerade Mozarts „Così“, Hessler schickte fünf potenzielle Fotografen rein. Die gaben dann alle brav ihre Fotos ab, Hösl legte ein kleines, grünes Buch mit eigenen, ganz anderen Arbeiten dazu, Porträts, bisschen Akt, Landschaft (Hösl: „Seit 40 Jahren führe ich ein paralleles Leben mit Fotografien, die niemand kennt.“). Sir Peter sagte wenig später: „Wir sehen uns.... Sind Sie der Mann mit dem grünen Buch?“
Hösl sah Händels „Giulio Cesare“, es war um ihn geschehen, von da an verbrachte er jedes zweite Wochenende in der Staatsoper, weil man ja auch Umbesetzungen, Repertoire-Aufführungen fotografieren muss, nicht nur die Premieren. In den zehn Jahren am Schauspiel hat er viel über die Wahrhaftigkeit von Darstellung gelernt, nun suchte er sie in der Oper. Fand sie. Auf den Proben, auf der Bühne, im ersten Konzeptionsgespräch. „Mein Vorteil: Ich bin näher dran als jeder Zuschauer. Und doch bin ich nicht anwesend.“ Aber man kann immer noch sehen, was er sah. Ikonische Bilder ikonischer Aufführungen. Theater ist eine flüchtige Kunst. Was von ihr bleibt, sind Erinnerungen. Und Wilfried Hösls Fotos.