Süddeutsche Zeitung

Ermittlungen in München:Staatsanwälte schießen im Fall der Kurden-Flagge übers Ziel hinaus

Haben sie einen Verdacht, müssen Staatsanwälte Straftaten nachgehen. Das muss aber verhältnismäßig sein - und das ist es im Fall der Kurden-Fahnen nicht.

Kommentar von Annette Ramelsberger

Zu Recht kann man von Polizei und Staatsanwaltschaft fordern, dass sie Straftaten nachgehen. Sie dürfen nicht einfach wegschauen, wenn in einen Laden eingebrochen, eine Frau vergewaltigt oder ein Auto beschädigt wird. Die Ermittler müssen sogar hinschauen, sie müssen dafür sorgen, dass das Recht eingehalten wird - man nennt das Legalitätsprinzip. Nirgendwo aber steht geschrieben, dass sie aus diesem Legalitäts- ein Absurditätsprinzip machen müssen. Und niemand, auch nicht der Rechtsstaat, verlangt, dass sich Staatsanwälte mit unsinnigen Ermittlungen selbst beschäftigen.

Mehr ist es nämlich nicht, was derzeit in München passiert: Die Polizei geht gegen eine ganze Reihe von Internetnutzern vor, die einen Artikel des Bayerischen Rundfunks auf Facebook gepostet haben. Nichts an dem Artikel ist falsch oder strafwürdig. Er setzt sich damit auseinander, dass die Polizei die Wohnung eines Mannes durchsucht hat, der im Internet eine Fahne der kurdischen YPG-Miliz in Syrien gepostet hatte; als Bebilderung wird diese Fahne gezeigt. Sie ist nur dann verboten, wenn mit ihr für die militante PKK geworben werden soll. Dieses Fahnen-Bild als strafbar zu verfolgen, ist in etwa so, als wenn man gegen die Leser eines Biologiebuchs ermittelt, in dem die Geschlechtsmerkmale von Mann und Frau gezeigt werden. Weil Pornografie ja grundsätzlich verboten ist.

Es gibt immer wieder übereifrige Staatsanwälte, die beim Kampf gegen verbotene Symbole übers Ziel hinausschieben. Im Jahr 2006 sollte ein linker Versandhändler 3600 Euro Strafe zahlen, weil er angeblich verbotene Kennzeichen in Umlauf brachte. Es ging um Hakenkreuze. Auf seinen Ansteckern und Aufklebern waren aber durchgestrichene Hakenkreuze zu sehen oder ein Hakenkreuz, das in einen Mülleimer getreten wurde. Die Staatsanwälte gingen bis zum Bundesgerichtshof - der gab dem Versandhändler recht.

Staatsanwälte haben zwar fast immer recht, das sagt ihnen schon ihr Berufsverständnis. Aber auch beim Recht-Haben sollten Juristen eine Regel anwenden, die fast genauso wichtig ist wie das Legalitätsprinzip: das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es besagt, dass Aufwand und Ertrag, die Schwere des Delikts und der Umfang der Ermittlungen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen müssen. Richtig angewendet hilft dieses Prinzip der Justiz auch, sich nicht im Kleinklein zu verzetteln. Anders gesagt: Man kann es auch übertreiben. Wenn die Justiz klagt, wie stark sie überlastet ist, kann man ihr entgegenhalten: Manche Staatsanwälte machen sich ihre Überlastung auch selbst.

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SZ vom 02.03.2018/jana
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