Süddeutsche Zeitung

Türkgücü München:Mal Vollgas, mal Vollbremsung

Das 4:3 gegen Mitaufsteiger Lübeck bietet wieder turbulente Unterhaltung. Es offenbart aber auch die mangelnde Konstanz des Drittliga-Neulings - und ein Einstellungsproblem.

Von Christoph Leischwitz

In der 81. Spielminute packte der Verteidiger Aaron Berzel den Mittelfeldspieler Benedikt Kirsch am Kragen und schrie ihn an, dass die Aerosole gut sichtbar durch die frische Herbstluft wirbelten. Wutentbrannt sah Berzel aus, und auch, wenn nicht genau zu verstehen war, was er da schrie, so war trotzdem klar, worum es gerade ging: Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Es stand gerade 4:3 für Türkgücü München, Gegner VfB Lübeck kam noch einmal auf. Berzel hatte einfach keine Lust, in diesem Drittligaspiel am Dienstagabend im Grünwalder Stadion noch Punkte abzugeben. Bei einigen anderen konnte man sich angesichts der Körpersprache und der Laufarbeit in der Schlussphase nicht so sicher sein.

Türkgücü gewann das Spiel, und es sagt viel über den Münchner Aufsteiger aus, dass sich darüber hernach niemand so richtig zu freuen schien. Das liegt auch daran, dass drei Punkte in einem Heimspiel gegen den Mitaufsteiger aus dem hohen Norden schon gar nicht mehr ausreichen, um zufrieden zu sein; dass man ein "Gerade noch mal gut gegangen"-Gefühl nicht als den eigenen Ansprüchen angemessen empfindet. Dabei hatten sie nach der ersten Niederlage in Magdeburg (0:2) gleich wieder die Trendwende geschafft. Doch in der Tat ließ die Mannschaft von Alexander Schmidt diesmal oft Souveränität vermissen. Vor allem dann, wenn sie in Führung lag. Der Trainer fand dafür deutliche Worte, seine Analyse fiel allerdings etwas diplomatischer aus als jene von Berzel auf dem Platz: "Wir haben zu viel zugelassen. Da fehlte die Kompaktheit gegen den Ball", sagte Schmidt. Es könne nicht angehen, dass Spieler einfach stehen blieben, wenn sie überspielt werden.

Mal Vollgas, mal lätschert - weil Türkgücü kein Mittelmaß kennt und von Langeweile nicht viel hält, ist immer ziemlich viel los im Spiel des ambitionierten Neulings im Profifußball. Gegen Lübeck entwickelte sich ein besonders verrückter Spielverlauf mit mehreren tragischen Helden. Alexander Sorge erzielte ein leicht vermeidbares Eigentor. Trainer Schmidt sagte zwar später, das Eigentor sei nicht der Grund gewesen, warum Sorge zur Pause ausgewechselt wurde. Er sprach allerdings bei diesem zwischenzeitlichen 1:1 (26.) auch von einem "Kommunikationsproblem" zwischen Abwehrspieler und Torwart. Dies könne auch damit zu tun haben, dass Sorge selten auf dem Platz stehe. Wenn Sorge dann aber gleich ausgewechselt wird - wann soll er die nötige Spielpraxis sammeln? Für ihn kam Azur Velagic in die Partie. Und der produzierte tatsächlich das zweite Türkgücü-Eigentor des Abends (54.), weil Lübeck außerhalb des Strafraums viel zu oft frei zum Schuss kam. Velagic, der am Dienstag seinen 29. Geburtstag beging, machte sich dazu ein unliebsames Geschenk, indem er unglücklich seinen Fuß in einen Schuss stellte.

Bedenklich war, dass die Mannschaft nach dem 3:3-Ausgleich des Tabellenletzten wieder nur so lange Siegeswille zeigte, bis es 4:3 stand - und das durch einen umstrittenen Elfmeter, den dritten des Abends. "Das war psychologisch eine wichtige Phase", sagte Schmidt und lobte den zweiten Elfmeter-Torschützen Daniele Gabriele für dessen Kaltschnäuzigkeit (67.). Während Türkgücü beide Strafstöße verwandelte, konnte sich Keeper René Vollath auszeichnen, indem er in der 17. Minute zunächst einen Lübecker Elfmeter und dann auch noch den Nachschuss abwehrte. Zum Helden des Abends taugte aber auch er nicht, weil auch er Schwächen gezeigt hatte. So hätte ihn der Lübecker Pascal Steinwender beinahe auf dem falschen Fuß erwischt, als er zu weit vor dem Tor stand (44.). Auch Kapitän Sercan Sararer, in den ersten Partien der Saison mehrmals als bester Spieler der gesamten Liga ausgezeichnet, blieb diesmal blass. Und auch er gehörte in der zweiten Halbzeit zu jenen Spielern, die nicht hinterher liefen, wenn sie überspielt wurden.

Obwohl Schmidt sich auf vielen Positionen für Stammkräfte entschieden hat, fehlt im Spiel Türkgücüs noch die Beständigkeit über 90 Minuten. Der Trainer sagte es nicht explizit, aber im Prinzip sprach er von einem Einstellungsproblem: "Da muss einfach der hundertprozentige Wille da sein, gegen den Ball zu arbeiten." Nach der bisherigen Punkteausbeute gefragt - Türkgücü hat neun Zähler in den ersten sechs Partien gesammelt - meinte der Trainer: "Das kann man akzeptieren." Die Mannschaft steht gut gesichert im Mittelfeld. Aber zum Durchschnitt zu gehören, das mögen sie beim Aufsteiger eben nicht besonders.

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SZ vom 22.10.2020
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