Schwimmen:Licht am Ende des Beckens

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Verletzungen, Misserfolge, Schicksalsschläge: Alexandra Wenk stand vor dem Ende ihrer titelreichen Karriere. Warum ein vierter Platz sie wieder an ihre dritten Olympischen Spiele glauben lässt.

Von Sebastian Winter, Berlin/München

2:11,57 Minuten also. Vierter Platz. Über 200 Meter Lagen, ihre einzige Strecke bei der deutschen Kurzbahn-Meisterschaft in Berlin. Für Alexandra Wenk müsste dieses so blechern klingende Ergebnis vom vergangenen Wochenende die reinste Ernüchterung sein. Seit 2008 hat sie - wenn die Statistik nicht lügt - mindestens 50 (!) DM-Medaillen bei den Erwachsenen gesammelt, darunter zwölf Titel auf der Langbahn, zwölf auf der Kurzbahn. Dazu Staffelgold und Einzelbronze bei Europameisterschaften, Bronze bei der Weltmeisterschaft 2015 in Kasan, die Olympiateilnahmen 2012 in London und 2016 in Rio. Was ist da ein vierter Platz bei einer eher unwichtigen Kurzbahn-DM? Doch Wenk, die Münchnerin, sagte nach ihrer Rückkehr in ihr Elternhaus in Perlach am Montag: "Es ist ein kleiner Lichtblick."

Vor drei, vier Jahren galt Wenk, inzwischen 24, noch als eines der deutschen Toptalente. Mit Florian Vogel und Philipp Wolf war sie Teil des Münchner Trios, das sich 2016 für die Spiele in Rio qualifizierte. Doch nach Olympia begann für Wenk eine kaum fassbare Talfahrt, prall gefüllt mit Verletzungen, Krankheiten, Ortswechseln, privaten Schicksalsschlägen, sportlichen Rückschlägen, Zweifeln. Die Kurzzusammenfassung geht vielleicht so: Die Spiele von Rio 2016 liefen nicht gut, Vorlauf-Aus im Einzel, Halbfinale in der Staffel. Wenk fiel danach in ein mentales Loch, machte Pause, endlich mal Urlaub in den USA. Nach ihrer Rückkehr schmerzte die Schulter, Diagnose: Sehneneinriss. Wenk entschied sich gegen eine OP und für eine Eigenbluttherapie, im Sommer 2017 war sie wieder ganz gut drauf, fühlte sich besser, schwamm Weltcups.

Dann begannen die Knieschmerzen. Das MRT-Ergebnis im Frühjahr 2018: Schleimbeutelfalten-Entzündung, Knorpelschaden, mehrere Einrisse, Operation unumgänglich. Hinzu kam, dass ihre Münchner Trainingsgruppe um Heimcoach Olaf Bünde bereits im Frühjahr zerbrochen war, auch wegen der schlechten Bädersituation in München. Wenk war deshalb im Mai nach Berlin gezogen, an den Bundesstützpunkt zu Cheftrainer Stefan Hansen. Den Sommer verbrachte sie auf Krücken, im Herbst lief es trotz allem ordentlich, aber an die Zeiten von früher kam sie nicht mehr heran. "Für mich war das eine richtig beschissene Zeit voller Zweifel", sagt Wenk, die in Berlin ihre dritten Olympischen Spiele 2020 in Tokio in Angriff nehmen wollte. Doch sie fremdelte auch noch mit der Stadt. "Ich habe mich dort nicht wohlgefühlt", sagt Wenk.

Anfang 2019 der nächste Schock: Ihr Trainer Hansen war wieder weg, er hatte eine Stelle als Nationaltrainer Dänemarks bekommen. Noch dazu schmerzte Wenks Schulter wieder, diesmal die andere. Nächste MRT an der Säbener Straße, derselbe Befund: Sehneneinriss, mit zusätzlichem Ödem: "Ich stand vor der Ärztin und dachte, das war's jetzt, ich lass' das Ganze sein." Zumal es ihrer Oma da schon schlecht ging, vergangenen Monat ist sie gestorben. Wenk, der ihre Familie so wichtig ist, war dem Rücktritt näher als je zuvor.

Sie sprach mit ihrer Mutter, zugleich ihre Mentorin, die einst als Schwimmerin EM-Silber für Rumänien gewonnen hatte. "Sie meinte: ,Ich kann es zu 100 Prozent verstehen, wenn du nicht mehr willst'."

Alexandra Wenk machte weiter. Wohl auch, weil sie neben dem Talent von ihrer Mutter auch deren Ehrgeiz und Kampfgeist hat. Also wieder Eigenbluttherapie, in Berlin, Reha. Nur knapp verpasste Wenk dann die Norm für die Universiade im vergangenen Juli in Neapel. Sie wurde nachnominiert, welch Glück - und lag dann mit 40 Grad Fieber und einer eitrigen Angina im Hotelschiff der Athleten vor der Stadt. Es war der letzte Tiefpunkt eines dreijährigen Dauertiefs, in dem es nur ganz wenige, kurze Lichtblicke gab.

Inzwischen ist Wenk in Regensburg. Seit Mai trainiert sie wieder unter Bünde, "meinem Heimtrainer, wir waren immer ein gutes Team". Er hat dort als Stützpunkttrainer Fuß gefasst. Sie wohnt bei ihrer Tante, pendelt an Wochenenden zurück nach München, studiert an der FH für angewandtes Management in Ismaning. Berlin ist Vergangenheit, die Schulter, das Knie, die Angina ebenfalls. Wenk ist schmerzfrei, sagt sie, ihre Physiotherapeuten seien top, bei Bedarf könne sie auch in München trainieren. Und sie hat den Umfang in Absprache mit Bünde reduziert, nun sind es acht statt zehn wöchentliche Wassereinheiten. Der neue Ansatz: weniger Umfang, mehr Kontinuität. "Ich weiß, ich habe nicht viel Zeit", sagt Wenk. Spätestens bei der Langbahn-DM Ende April/Anfang Mai muss sie 2:11,90 Minuten über 200 Meter Lagen schwimmen, das ist die Norm für Tokio. Die 2:11,57 vom vergangenen Wochenende sind dabei kein Maßstab, die Kurzbahn ist viel schneller, weil man mehr Wenden zum Abstoßen hat. "Die Qualifikation ist mein einziges Ziel", sagt Wenk. Sie möchte nicht in zehn Jahren sagen, sie hätte es nicht versucht.

Am Montag packte Alexandra Wenk ihre Koffer, um wieder nach Regensburg zu gehen. In den nächsten zwei Wochen hat sie dort eine Zusatzaufgabe. Weil ihre Tante geschäftlich im Ausland ist, kümmert Wenk sich um ihre elfjährige Cousine, kocht, plant Ausflüge. Sie freut sich darauf. Auch weil sie längst begriffen hat, dass es ein Leben neben dem Beckenrand gibt.

© SZ vom 19.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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