Süddeutsche Zeitung

Olympiapark München:Die großen Zeiten eines großen Stadions

An diesem Samstag kehrt mit Türkgücü der Profifußball ins Olympiastadion zurück. Eine Erinnerung an wichtige Momente dort.

Von Johannes Schnitzler

Für die Sommerspiele 1972 gebaut, für seine luzide, kühne Architektur bis heute gefeiert, ist das Münchner Olympiastadion ein Wahrzeichen der Stadt. In seinen fast 50 Lebensjahren hat es viel gesehen: Die "fröhlichen Spiele", die im Attentat auf die israelische Olympiamannschaft ihren traurigen Tiefpunkt erlebten, und die lapidaren Worte des damaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage: "The Games must go on." Leichtathletik, Rugby, gigantische Rock-Konzerte. Papstbesuche. Sogar Rennautos röhrten 2011 und 2012 durch das Oval. Vor allem aber wird das "Oly" mit Fußball verbunden - in erster Linie mit dem FC Bayern, der hier zum Weltklub aufstieg.

Seit dem Umzug der Bayern und der Münchner Löwen in die Arena nach Fröttmaning im Jahr 2005 war der Profifußball nur noch ein Mal auf Stippvisite im Olympiastadion: 2012 bestritten Olympique Lyon und der 1. FFC Frankfurt das Frauen-Champions-League-Finale (2:0 für Lyon). Das erste Champions-League-Endspiel der Männer überhaupt fand ebenfalls hier statt, 1993 war das. Die Uefa hatte den guten alten Europapokal der Landesmeister aufpoliert, erster Sieger war Olympique Marseille (1:0 gegen AC Mailand). Im Team der Franzosen stand der in Ehren ergraute Rudi Völler, dessen Karriere eng mit dem Olympiastadion verknüpft ist: 1980 kam der spätere Weltmeister zum TSV 1860, stieg mit den Löwen aus der Bundesliga ab, wurde 1982 mit 37 Toren Schützenkönig der zweiten Liga, ehe er nach Bremen wechselte. Völler ist der einzige Mensch, der je durchs Stadion flog: als Bayern-Libero Klaus Augenthaler ihn im November 1985 übel foulte und Völler wie eine Feuerwerksrakete durch die Luft schoss.

Mit der Premiere (ohne Zuschauer) von Drittligist Türkgücü München an diesem Samstag gegen Wehen Wiesbaden kehrt der Profifußball nun zurück ins Olympiastadion. Zeit für eine Erinnerung an prägende Momente.

Als der "Bomber" die Sowjetunion besiegte

Aus dem Buch der Kalenderweisheiten: "Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt." Und warum nicht mitten im Kalten Krieg ein Stadion, das ja für Olympische Spiele, das Sportfest für die Jugend der Welt, gebaut und für seine moderne, weltoffene Architektur gelobt wird, mit einem Länderspiel gegen die Sowjetunion einweihen? Am 26. Mai 1972 standen sich also zur Eröffnung des neuen, von Günter Behnisch und Fritz Auer entworfenen Olympiastadions in München das Team des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und die sowjetische Sbornaja gegenüber - von links im Bild Sepp Maier, Paul Breitner, Anatoli Banischevsky und Hans Georg Schwarzenbeck. Es war das erste Länderspiel in München seit 1940, und es sollte der höchste Sieg gegen die Sowjetunion werden: Vor 80 000 Zuschauern im ausverkauften Stadion gewann die Elf von Bundestrainer Helmut Schön 4:1. Alle vier Tore für Deutschland erzielte Gerd Müller, der Mittelstürmer des FC Bayern. Einen Monat zuvor beim 3:1 gegen England in London hatte Müller mit seinem 43. Länderspieltor den bis dahin gültigen Rekord von Uwe Seeler eingestellt. Im Lauf seiner Karriere im Nationaltrikot, die er nach dem Sieg im WM-Finale am 7. Juli 1974 in München (Siegtorschütze: Müller) beendete, baute der "Bomber der Nation" seinen Rekord auf 68 Tore in 62 Länderspielen aus, eine nie wieder erreichte Quote. Das erkannte auch Miroslav Klose an, der Müller 2014 überflügelte. Klose traf 71 Mal - in 137 Spielen.

Der Rekord-Meister

Wie bitte? Schalke 04 - deutscher Meister 1972? Schalke, waren das nicht die, die 2001 vier Minuten lang überzeugt waren, sie wären wieder Meister - zum ersten Mal seit 1958? Bis Patrik Andersson in Hamburg einen Freistoß ins Netz wuchtete und alle Schalker heulten, bis Rudi Assauers Zigarre feucht vor sich hin schmurgelte? Jene Schalker, die nun für immer den mitleidigen Titel "Meister der Herzen" tragen dürfen? Immer mit der Ruhe. Selbstverständlich war der FC Schalke 04 auch 1972 nicht deutscher Meister. Absurd. Deutscher Meister 1972 war der FC Bayern, zum zweiten Mal in der Bundesliga und zum dritten Mal insgesamt, mit 101 Saisontoren, deren 40 alleine Gerd Müller erzielte (obwohl er drei Elfmeter verballerte) - beides bis heute gültige Rekorde. Allerdings waren die Schalker damals nah dran. Am letzten Spieltag trafen Tabellenführer München und Verfolger Schalke im direkten Duell aufeinander, an einem Mittwoch um 20 Uhr, denn es war die erste Live-Übertragung eines Bundesligaspiels im deutschen Fernsehen - und das erste Spiel des FC Bayern im Olympiastadion überhaupt. 80 000 Zuschauer bescherten dem Klub die erste Millioneneinnahme. Die Geburtsstunde der Rekord-Bayern, die prompt 5:1 gewannen. Für den Fall der Fälle hatte die Stadionregie aber mal beide Varianten auf der Anzeigetafel geprobt. Schalke bleibt immerhin ein Rekord: Ihr 7:0 vom 9. Oktober 1976 ist bis heute die höchste Heimniederlage der Bayern.

König-und-Kaiser-Zeit

Die Fußball-Weltmeisterschaft erstmals live und durchgehend in Farbe: Das war 1974 ein Novum im deutschen Fernsehen. Gekrönt wurde das Turnier durch den (ja, gut, etwas glücklichen) 2:1-Sieg der Deutschen im Finale von München gegen die Niederlande von "König" Johan Cruyff - oben Uli Hoeneß im Duell mit Ruud Krol. Aber München war damals eben das Reich des "Kaisers": Franz Beckenbauer lustwandelte als Libero elegant und freigeistig über den Rasen im Olympiapark, Spaßvogel Sepp Maier ging auf Entenjagd und Gerd Müller müllerte, dass es nur so krachte (Hit-Single: "Dann macht es bumm"). Es war die Hochzeit des deutschen Fußballs - 1972 war die vielleicht beste deutsche Mannschaft der Geschichte um Günter Netzer, Beckenbauer, Maier, Müller und Wolfgang Overath bereits Europameister geworden - und auch die Blüte des FC Bayern, der von 1974 bis 1976 dreimal in Serie den Vorläufer der Champions League gewann, den Europapokal der Landesmeister. Doch wie immer, wenn sich ein Imperium zu weit ausdehnt, dämmerte am Horizont über dem olympischen Zeltdach bereits der Niedergang. In der Bundesliga zerfielen die Bayern zusehends, 1978 kroch das erfolgsmüde Team auf Platz 12 ins Ziel. Am Ende des Jahrzehnts waren Beckenbauer und Müller in die USA abgewandert, durchs Olympiastadion zog ein kalter Wind. Bis ein gewisser Uli Hoeneß 1979 mit gerade einmal 27 Jahren die Geschäfte übernahm. Der Beginn einer neuen Epoche.

Blauer Schauer

Die Beziehung des TSV 1860 München zum Olympiastadion ist ähnlich frostig wie jene zur Arena in Fröttmaning. Nicht nur, weil die Löwen auch dieses Stadion mit dem FC Bayern teilen mussten. Sondern, weil sich einige Tiefpunkte ihrer Klubhistorie dort abgespielt haben. Dabei begann alles verheißungsvoll. Zum Spiel gegen den FC Augsburg (1:1) drängten sich am 15. August 1973 Schätzungen zufolge 100 000 Zuschauer unter dem Zeltdach - bis heute gilt die Partie als weltweit bestbesuchtes Zweitligaspiel. Erst 1977 kehrten die Löwen, Meister '66, abgestiegen '70, unter Heinz Lucas in die Bundesliga zurück und landeten gleich einen Coup: Am 12. November gewannen sie - offiziell auswärts - bei den Bayern 3:1. In die Bundesliga-Geschichte ging das Spiel deshalb ein, weil Karl-Heinz Rummenigge Löwen-Zugang Beppo Hofeditz watschte; Hofeditz hatte ihn zuvor "rote Bayernsau" genannt. Am Ende der Saison stiegen die Blauen aber ab. Es sollte bis 1999 dauern, ehe sie wieder in der Bundesliga gegen die Roten jubeln durften: Wieder war es November, als Thomas Riedl zum 1:0 traf. Auch das zweite Saisonduell gewann 1860 (2:1) und träumte von großen Zeiten. 2000 scheiterte das Team von Werner Lorant aber in der Qualifikation zur Champions League an Leeds United. Am 15. Mai 2004 verschoss Francis Kioyo dann beim 1:1 gegen Hertha BSC in der 89. Minute einen Elfmeter. Sechzig musste in die zweite Liga und zog 2005 in die Arena im Münchner Norden. Aber das ist eine andere Schauergeschichte.

Phantomtore und Geisterspiele

Alles hat irgendwann ein Ende. Das letzte Spiel des FC Bayern im Olympiastadion fand am 14. Mai 2005 statt. Die Fans trugen das Stadion, das ihnen in den vergangenen 33 Jahren doch irgendwie ans Herz gewachsen war, symbolisch zu Grabe - würde es draußen in der neuen Arena wieder so schön werden? Gegner bei diesem Finale war der 1. FC Nürnberg, der "Club", Endstand 6:3 für München. Die Treffer für die Bayern erzielten Pizarro, Ballack, Deisler (2) und Makaay (2), bei den Nürnbergern stand Torjäger Marek Mintal auf dem Platz, Spitzname: "Phantom". Das erste Phantomtor der Bundesliga-Geschichte erzielte aber Thomas Helmer am 23. April 1994, dem drittletzten Spieltag der Saison - gegen den 1. FC Nürnberg. Eine Ecke von Marcel Witeczek wurschtelte Bayern-Verteidiger Helmer irgendwie am Nürnberger Kasten vorbei. Doch Linienrichter Jörg Jablonski entschied: Der Ball war drin! Die Proteste der Clubberer halfen nichts. Helmer erzielte auch noch das 2:0, ehe Alain Sutter verkürzte. Manfred Schwabl hätte per Elfmeter noch ausgleichen können, scheiterte aber an Raimond Aumann. Jablonski und Schiedsrichter Osmers erhielten Morddrohungen, die später annullierte Partie wurde am 3. Mai 1994 wiederholt. Bayern gewann 5:0 und wurde Meister, der Club stieg ab. Helmer ist heute TV-Moderator und führt mit Studiogästen Phantomdiskussionen über Champions-League-Spiele, die Sport1 nicht zeigen darf. Die Geister der Vergangenheit?

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SZ vom 10.10.2020/kast
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