Methode Naturelle:Sei stark und nützlich

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Viele Sportler treffen sich in München, um eine soziale Form des Parcour zu betreiben

Von Michael Fischer, München

Fast uneinnehmbar steht sie da, die etwa drei Meter hohe, trist-graue Betonwand am Rande des Olympiaparks. Philipp Fügmann hat sich nach mehr als einer Stunde Sport auch seines letzten T-Shirts entledigt, er nimmt Anlauf und springt. Während seine Hände an den oberen Rand des Mauerwerks greifen, zeichnen sich am gesamten Oberkörper Muskelstränge ab, das Gesicht ist schmerzverzerrt. Fügmann zieht sich nach oben und überwindet das Hindernis. Die Erleichterung ist ihm anzusehen.

Dass er für solche Höchstleistungen vom Rest seiner Trainingsgruppe keinen Beifall, sondern höchstens kritische Blicke erntet, musste er zunächst lernen. "Beim ersten Mal sind wir über Bäume geklettert, ich war der Schnellste, habe mich gefreut, bis ich gesehen habe, dass die anderen sich gegenseitig helfen", erzählt der 29-Jährige. Fügmann betreibt mit insgesamt knapp 30 Gleichgesinnten "Méthode Naturelle", ein Trainingskonzept, das ein französischer Marine-Offizier zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte und das die Basis für die immer populärer werdende Trendsportart Parcour, aber auch für Hindernisläufe und Abenteuerspielplätze bildet. Gehen, Laufen, Kriechen, Werfen, Tragen, Klettern, Schwimmen - all das gehört zu Méthode Naturelle.

Dreimal wöchentlich trifft sich die Gruppe an verschiedenen Orten in München, um im Freien Sport zu treiben. Laut Nadja Hahn, der Trainerin, geht es darum, sich auf die "Grundgedanken" zu besinnen, denn "man macht Sport, um sich aus Gefahrensituationen zu befreien". Und so gestaltet sich dann auch das Training. Auf den noch feuchten Hängen im Park wird simuliert, wie man gemeinsam einen Verletzten bergauf und bergab trägt oder durch gegenseitige Hilfe einen rutschigen Hügel erklimmt. Auch verschiedene Selbstverteidigungstechniken finden Eingang in das morgendliche Programm.

Was ihren Sport so besonders macht, darüber ist sich die Gruppe einig. "Wir sind ein sehr gemischter Haufen, bei dem jeder so genommen wird, wie er ist", sagt Fügmann, der viele Jahre Basketball spielte. Eine Einschätzung, die auch Heinrich Haag, mit 46 Jahren der älteste Teilnehmer, bestätigen kann. Er habe Sport sein Leben lang gehasst, bis er vor eineinhalb Jahren im Internet gezielt nach den Begriffen Sport, Natur und München suchte und auf die Gruppe stieß. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen mit Leistungsdruck sei bei Méthode Naturelle elementar, dass "jeder jedem hilft". Eine Prämisse, die auch Haag Erfolgserlebnisse bescherte: Kürzlich hat er seinen ersten Klimmzug geschafft, und "das Übergewicht ist auch weg".

Nadja Hahn betont in diesem Zusammenhang, dass Sport nicht Qual bedeuten muss, also "dass mich jemand anschreit", sondern dass es auch einfach Spaß machen kann, mit einer harmonischen Gemeinschaft in der Natur aktiv zu sein. Dort aber nicht aus ökologischer Verbundenheit, sondern um sich abzuhärten, wie die 29-jährige Studentin betont. "Anfangs hatte ich auch das Bild vom nackt durch den Wald tanzenden Menschen, der Bäume umarmt, im Kopf", sagt sie. Bei jeder Witterung rauszugehen, dazu oft barfuß, fördere aber vor allem die mentale Stärke: "Mut, Disziplin und Hilfsbereitschaft."

Die Philosophie von Méthode Naturelle ist "être fort pour être utile", sei stark, um nützlich zu sein - ein Gedanke, der die Teilnehmer wie ein Virus infiziere, sagt Fügmann. Durch das gemeinsame Training sei ihm immer klarer geworden, dass es im Leben nicht nur darum gehe, "größer, besser und schneller als der andere" zu sein. Das Leben des Ingenieurs hat das massiv beeinflusst: "Wir haben uns überlegt, wie man das, was man trainiert, auch im Leben anwenden kann", erzählt er. Mitglieder der Gruppe würden nun in Asylbewerberheimen helfen oder bei Behindertensport-Veranstaltungen mit anpacken. Nützlich sein, wie es die Devise des Sports vorgibt. Irgendwann reichten ihm die vereinzelten Einsätze aber nicht mehr, er wollte seine Fähigkeiten auch einbringen, um anderen zu helfen: "Der Sport hat mir die Augen geöffnet", sagt Fügmann, der sich für eine Ausbildung zum Rettungsschwimmer entschieden hat. So trage er den Gedanken seines Sports weiter und könne auch im Alltag Menschen helfen und gleichzeitig sich selbst trainieren.

Nachdem er die Mauer alleine erklommen hat, läuft Fügmann zurück zum Ausgangspunkt. Er stellt sich mit dem Rücken zum Beton, die Beine sind gebeugt. Nadja Hahn steigt auf seine Hände, mit denen er sie nach oben drückt, wo sie von zwei Helfern über die Wand gezogen wird. Die Teilnehmer freuen sich, Fügmann auch, das Ziel ist erreicht: nützlich sein, ganz ohne kritische Blicke.

© SZ vom 30.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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