Mehrkampf:Im Startblock gefangen

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Zehnkämpfer Felix Wolter vom TSV Gräfelfing, hier in Ulm beim Gewinn der Silbermedaille in der Halle. (Foto: Beautiful Sports/Imago)

Mit DM-Silber begann das Jahr gut für Felix Wolter. Nun plant er für 2021.

Von Oliver Götz, München

Für diese Saison hatte sich Felix Wolter etwas ganz Besonderes vorgenommen. Der Leichtathlet und Mehrkämpfer des TSV Gräfelfing war gerade dabei, ein alternatives Startblocksystem zu entwickeln. Im Vergleich zu herkömmlichen Systemen sollte es deutlich kostengünstiger Reaktionszeiten messen und personalisierte Startverfahren zulassen. Athleten könnten so, ganz einfach über eine Smartphone-App gesteuert, ihr Startverhalten optimieren. Es ist nicht frei von Ironie, dass es inzwischen weniger um die Frage geht, wie schnell Felix Wolter oder einer seiner Trainingskollegen startet, sondern darum, wann (und ob überhaupt) für alle so etwas ähnliches wie eine Saison starten kann.

Es war ein zeitintensives Vorhaben, an dem er Anfang des Jahres gebastelt hatte. Das ließ ein Stück weit erkennen, wie Wolter, der einen Bachelor in Informatik hat, tickt. Der 22-jährige Münchner ist ein akribischer Arbeiter, ein Perfektionist und Tüftler. Einer, der neuen Herausforderungen mit Freude entgegensieht. Und dabei stets von einer notorischen Unzufriedenheit begleitet wird, was Ist-Zustände anbelangt. Er hatte sich auch sportlich eine Menge vorgenommen für dieses Jahr. Diesen Sommer wollte er nach Paris, ins Stade Charléty, wo Ende August die Leichtathletik-Europameisterschaften stattfinden sollten. Dafür hätte er zuvor in einem Zehnkampf-Meeting 8000 Punkte erreichen müssen. Aufgabe genug: Wolters persönliche Bestleistung aus dem Juni des vergangenen Jahres liegt bei 7518 Punkten. Und neben der Punktehürde hätte er sich ja auch erst einmal gegen die nationale Konkurrenz durchsetzen müssen. "Die Leistungsdichte in Deutschland ist gerade sehr hoch", sagt Günter Mayer, der Wolter seit mehr als einem Jahr gemeinsam mit Matthias Schimmelpfennig und Martin Laubinger beim TSV Gräfelfing trainiert. Gut möglich, dass 8000 Punkte nicht mal gereicht hätten. Auf unter zehn Prozent hätte Mayer die Wahrscheinlichkeit angesetzt, dass sich Felix Wolter für diese EM qualifiziert, auch wenn er ihm diese Überraschung natürlich trotzdem zugetraut hätte. Am Abend des 23. April sank sie dann aber spontan auf null - da wurde die EM wegen der Corona-Pandemie abgesagt.

"Träge, mit Nebel im Kopf, ohne Adrenalin": Wolter war in Ulm noch nicht mal zufrieden mit sich

Felix Wolters bislang größter sportlicher Erfolg wirkt fast, als entstamme er einer anderen Epoche, dabei ist er noch gar nicht lange her. Bei den deutschen Mehrkampf-Hallenmeisterschaften in Leverkusen gewann er im Februar Silber im Siebenkampf, mit seiner persönlichen Bestmarke von 5550 Punkten. Eine starke Leistung, so kann man schon mal in ein Jahr starten. Da es in der Halle keine Zehnkämpfe gibt, haftet der Wintersaison eher ein Trainings- und Vorbereitungscharakter für den Sommer an. Im Zehnkampf hätte es vielleicht zu 7700 Punkten gereicht, schätzt Wolter, was ebenfalls eine neue Bestleistung gewesen wäre. Auch deshalb versichert Trainer Mayer: "Der Bundestrainer beobachtet ihn und sieht seine Fähigkeiten."

Dabei war Wolter in Leverkusen nicht einmal zufrieden, "es war okay", sagte er, mehr nicht. "Gefühlt war die Form noch nicht ganz da, ich habe es nicht richtig geschafft, mich zu pushen." Am ersten Tag sei er "träge, mit Nebel im Kopf und ohne Adrenalin" an den Start gegangen. Im Kugelstoßen und beim Hochsprung ließ er Punkte liegen. Mit einer guten Zeit über die 60 Meter und 7,12 Metern im Weitsprung, knapp unter seiner Bestleistung, hielt er den Anschluss an die Podestplätze. Die wären am zweiten Tag dann beinahe und ausgerechnet in seiner Lieblingsdisziplin, dem Stabhochsprung, in weite Ferne gerückt. Erst im dritten Versuch zitterte er sich über 4,30 Meter. Ein später Befreiungsschlag. Er übersprang die folgenden Höhen bis einschließlich 4,70 Meter. "Danach wusste ich, dass ich Silber habe." Anschließend lief Wolter die 1000 Meter in 2:50,26 Minuten, so schnell wie noch nie in einem Wettkampf. "Da gibt es immer noch Potenzial nach oben", versicherte er.

Ende August wären in Vaterstetten deutsche Meisterschaften. Ob er dort starten dürfte, ist unklar

Seitdem hat sich alles verändert. Zwischen 15 und 18 Stunden trainiert er üblicherweise pro Woche, Fitness, Athletik und vor allem Technik. Er muss schließlich die Bewegungsabläufe von zehn Disziplinen beherrschen. Als die Stadien, Hallen und Krafträume in Bayern schlossen, blieben ihm plötzlich nur noch Joggingeinheiten und ein bisschen Athletik-Training für daheim. "Ein Leben ohne Sport kann ich mir nicht vorstellen, ich brauche das", sagt Felix Wolter. Schon mit vier Jahren hatte er es mit Eishockey versucht. Zur Leichtathletik kam er mit zwölf, als er "keinen Bock mehr auf Fußball" gehabt habe. Keine andere Sportart habe ihn bislang so fasziniert wie die Leichtathletik. Über den TSV 1860 München und den TSV München-Ost landete er in Gräfelfing, wo er sich seit etwas mehr als einem Jahr endgültig auf den Zehnkampf konzentriert. "Felix ist extrem fokussiert, nichts bringt ihn aus der Ruhe", beschreibt ihn Trainer Mayer, "er hat eine große innere Souveränität und Coolness."

Die braucht er zurzeit besonders. Nach der Saison wollte er eigentlich für zwei Jahre in die USA gehen, um ein Master-Studium in Robotics zu absolvieren. Dann aber sei es für die Unis schwierig geworden mit der Finanzierung der Stipendien. Auch hier hing er während der Corona-Pause also plötzlich in der Luft. Nun aber habe er ein Angebot aus Pittsburgh bekommen, zwar für ein Informatik-Studium, aber immerhin. Er gedenke, das wahrzunehmen. Neue Impulse und gute Möglichkeiten, Leistungssport und Ausbildung zu vereinbaren, erwartet er sich. Mitte August würde es losgehen. Was das für die verbleibende Saison in Deutschland bedeutet, ist unklar. Für Ende August sind nämlich in Vaterstetten deutsche Mehrkampfmeisterschaften angesetzt, die der Deutsche Leichtathletik-Verband offenbar unbedingt durchziehen will. Zurzeit wird an Konzepten gearbeitet, vermutlich mit einem kleinen Teilnehmerfeld, vorzugsweise für Olympiakandidaten. Ob ihm sein Hallensilber mangels anderer Qualifikationsmöglichkeiten womöglich trotzdem einen Startplatz bescheren würde? Noch unklar. "Wenn es sich nicht ergibt, werde ich eben eher auf nächstes Jahr hinarbeiten", sagt Felix Wolter, dessen Ehrgeiz sich ohnehin bereits auf eine noch etwas fernere Zukunft ausrichtet. Wenn es mit Paris in diesem Jahr schon nicht geklappt hat, soll es nämlich wenigstens im Sommer 2024 hinhauen - dann finden dort die Olympischen Sommerspiele statt. Bis dahin wird er eben in den USA weitertüfteln, an der Uni und auf dem Sportplatz.

© SZ vom 28.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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