Leichtathletik:Eins mit ein paar Sternchen

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"Mir hat etwas der Mut gefehlt": Clemens Bleistein, links neben dem Sieger Yomif Kejelcha aus Äthiopien, nach dem Finale. Seine Unzufriedenheit wich dann allerdings bald der Freude über ein "Wahnsinnserlebnis". (Foto: Chai von der Laage/imago)

Clemens Bleistein hat sich den Traum von einem Weltmeisterschaft-Finale erfüllt - als Achter über 3000 Meter in Birmingham.

Von Andreas Liebmann, Birmingham/München

Für jeden Läufer einzeln öffnete sich die Tür zur abgedunkelten Halle, jeder Name wurde ausgerufen und beklatscht, auch Clemens Bleistein hüpfte winkend durch ein Spalier aus sechs Feuerwerksfontänen, um an seinen Startplatz zu gelangen. "Das war ein Wahnsinnsgefühl", sagte er später, "absolute Gänsehaut." Der 27-jährige Leichtathlet von der LG Stadtwerke München hat sich am Wochenende in Birmingham einen Traum erfüllt, er war angekommen an der Weltspitze, er vertrat sein Land im 3000-Meter-Finale bei einer Hallen-Weltmeisterschaft. In diesem Moment wurde ihm all das wahrscheinlich noch einmal besonders bewusst. "Klar war ich nervös", sagte er. "Ich wusste, wo die Leute sitzen, die mich anfeuern, und konnte noch einmal zu ihnen nach oben schauen."

Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Bleistein nie Weltmeister werden wird auf seiner von Afrikanern dominierten Langstrecke. Möglicherweise ist sogar das Ende seiner Laufbahn bereits in Sichtweite, weil er in Kürze anfangen wird, als Arzt zu arbeiten, einem fordernden Beruf, der nicht dafür bekannt ist, nebenher internationale Höchstleistungen im Sport zu erlauben. Bleistein will das auf sich zukommen lassen. Doch am Sonntag zählte nur das Hier und Jetzt, zählte, was sich der Münchner in den Monaten zuvor nach einer einjährigen Pause und ganz speziell in einem spannenden WM-Vorlauf am Freitag erarbeitet hatte. Es zählte, sich so teuer wie möglich zu verkaufen in diesem Feld, das von drei hoch gehandelten Äthiopiern angeführt wurde. Jenen dreien, die sich schon bald nach dem Startschuss ganz hinten eingereiht hatten, um gelassen zu beobachten, was die Konkurrenz so vorhat.

Kurz ging der Deutsche mit den rotblonden Haaren mal in Führung, aber dann reihte er sich irgendwo im vorderen Mittelfeld ein. Im Vorlauf zwei Tage zuvor hatte er eine ganz andere Taktik gewählt. War sofort nach vorne gegangen, hatte fast zehn Runden lang die Führungsarbeit an sich gerissen. "32-er-Runden, nichts, womit man andere abhängt", wusste er. Doch was er auch wusste: Sein Vorlauf war der stärker besetzte; zu stark, um sich als einer der ersten Vier direkt zu qualifizieren, aber vielleicht stark genug, um über eine schnelle Zeit trotzdem weiterzukommen. Weshalb es wichtig war, Druck zu machen, auch wenn ein, zwei andere, auf deren Unterstützung er gehofft hatte, passiv blieben.

Die Taktik ging auf. Nach 2000 Metern habe er mal auf die Uhr geschaut und gestaunt: "Wow, dafür fühle ich mich noch richtig gut." Irgendwann war eine Sechsergruppe an ihm vorbeigezogen, riss eine Lücke, die Bleistein nicht zu schließen vermochte, doch als er 400 Meter vor dem Ziel erneut die Uhr erblickte, ahnte er, dass das nicht schlimm war. "Natürlich tut es etwas weh, wenn die einem so davonlaufen", sagte er, doch mit etwas Abstand als Siebter kam er trotzdem mit neuer persönlicher Bestzeit ins Ziel, 7:49,01 Minuten. Durfte hoffen. Und letztlich feststellen, dass der zweite Vorlauf tatsächlich langsamer war. Dass er sein erstes großes Finale erreicht hatte. Mutig, aber kontrolliert war Bleistein vorgegangen, anders als im zweiten Lauf der Argentinier Federico Bruno, der sich gleich gut hundert Meter Vorsprung ersprintet hatte, um dann ermattet vom Feld durchgereicht zu werden.

Der Finallauf war etwas für Taktiker, das wurde auch dem Münchner schnell klar. Langsam war er, von "2000 Meter Anlauf" sprach Bleistein später. Als es dann wirklich losging, als die Favoriten die Taktzahl deutlich erhöhten, befand er sich in einer ungünstigen Position. "Eine Sekunde ist man nicht aufmerksam, und plötzlich rennen acht Afrikaner an einem vorbei", übertrieb er (es waren überhaupt nur sechs im Rennen), "ich hätte wohl schneller reagieren und diese Lücke schließen müssen." Aber das sehe von außen einfacher aus, als es bei zunehmender Erschöpfung tatsächlich sei. Da sei es schwierig, im Gewühl zu überholen und seine Position zu halten. Bleistein war also nicht wirklich zufrieden mit seinem großen Finale, "mir hat etwas der Mut gefehlt", bedauerte er, ein, zwei Plätze weiter vorn wären sonst wohl drin gewesen. Es wurde Rang acht, immerhin vier Konkurrenten hatte er auf der starken Schlussrunde noch hinter sich gelassen. In Schulnoten ausgedrückt habe er im Finallauf "eine Drei minus" verdient, fand er. Also gerade noch befriedigend.

"Ich stehe noch ein wenig neben mir", sagt Bleistein am Tag nach einer kurzen Nacht

Das klang dann allerdings doch frustrierter, als er tatsächlich war. Seine gesamte Hallensaison und die Leistung im Vorlauf fand Bleistein "sensationell", in Schulnoten ausgedrückt dürfte das wohl eine Eins mit ein paar Sternchen sein. Niemals habe er so etwas im Herbst für möglich gehalten. Und sein eigentliches Saisonziel steht ja noch bevor, die EM im Sommer in Berlin, ein Karrierehöhepunkt. Birmingham, bilanzierte er, "war ein Wahnsinnserlebnis." Er ist dann noch ein wenig dort geblieben. Bleistein wollte noch etwas von der Stadt sehen. Während er von seinem Wochenende erzählt, kommen schrille Töne aus dem Hintergrund. Sein Hotel probt Feueralarm. Schwierig auszuhalten: "Ich stehe noch ein wenig neben mir", gesteht er - im positiven Sinn. Die Nacht war kurz, er hatte gefeiert, und die Euphorie vom Vortag war noch nicht verflogen. "So viele Leute" hätten gratuliert. "Ich genieße das noch ein bisschen."

© SZ vom 06.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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