Maria Kießling:Die Rekord-Leichtathletin, die fast vergessen ist

Maria Kießling: Maria Kießling dominierte zu ihrer Zeit bei den deutschen Meisterschaften den 100-m-Lauf, Weitsprung und Kugelstoßen.

Maria Kießling dominierte zu ihrer Zeit bei den deutschen Meisterschaften den 100-m-Lauf, Weitsprung und Kugelstoßen.

(Foto: Gerhard Graeber)

Vor 100 Jahren räumte die Münchnerin Maria Kießling bei den deutschen Meisterschaften alle Titel ab, ihre Leistungen wären Weltrekorde gewesen. Eine Spurensuche.

Von Andreas Liebmann

Ob man Steine nach ihr warf wie damals nach Lotte Specht? Wohl kaum. Die Geschichte hat auch der Münchner Leichtathletin Maria Kießling eine Rolle als Pionierin ihres Sports zugedacht, doch sie wurde dafür weder angefeindet noch nachträglich zur Ikone einer Bewegung erhoben. Maria Kießling, geboren 1894 in München, hat etwas geschafft, was zuvor nie einem anderen Menschen gelungen sein konnte und sicher nie wieder jemandem gelingen wird, vor exakt einhundert Jahren in Dresden. Danach hat die Zeit viele Erinnerungen an sie verschluckt.

Die wichtigsten Zahlen haben die Jahre und einen Weltkrieg überdauert, sie sind in Statistiken festgehalten und sogar in einem Wikipedia-Eintrag. "Marie Kießling", steht da (eigentlich Maria Babette), "war die einzige deutsche Leichtathletin, der es gelang, alle ausgerichteten Wettbewerbe bei einer Meisterschaft zu gewinnen".

26 war sie da. Erstmals durften Frauen in Dresden an deutschen Leichtathletik-Meisterschaften teilnehmen, am 14. und 15. August 1920: im 100-Meter-Sprint, im Weitsprung, im Kugelstoßen und in der 4×100-Meter-Staffel, eingebettet in ein opulentes Meisterschaftsprogramm aus 22 Disziplinen für Männer. Maria Kießling trat viermal an - und eroberte für den TSV 1860 München viermal Gold.

So erstaunlich das klingt, die Überraschung muss sich doch in Grenzen gehalten haben. Einem Vorbericht der Münchner Neuesten Nachrichten war damals zu entnehmen: "Die Damen-Meisterschaften dürften diesmal alle nach Süddeutschland wandern; Fräulein Kießling (1860 München), die sowohl im 100-m-Lauf, Weitsprung und Kugelstoßen bisher mit überragenden Leistungen dominierte, gilt als die beste Vertreterin neben den anderen Münchnerinnen..." - mit denen sie als Schlussläuferin obendrein eine "Rekordstaffel" bildete. Ganz offensichtlich war diese Maria Kießling eine Klasse für sich.

Ihre Medaillen gibt es noch heute. Sie liegen in einem Karton auf dem Speicher eines Münchner Wohnhauses.

Die Sache mit Lotte Specht war anders. Die Frankfurter Metzgerstochter hatte 1930 den ersten deutschen Frauenfußballverein gegründet, viel zu früh für die Vorurteile ihrer Zeit. Der Deutsche Fußball-Bund vertrat damals die Ansicht, dass Fußball "mit der Würde und dem Wesen der Frau unvereinbar" wäre und bekam Unterstützung von Ärzten, die vor einer Vermännlichung der Frauenkörper warnten. Erst 40 Jahre später sollte der Verband von seinem Verbot des Frauenfußballs abrücken. Und so flogen den Spielerinnen des 1. DDFC Frankfurt, den Specht aus frauenrechtlichen Motiven heraus gegründet hatte ("Ich habe gesagt, was die Männer können, können wir auch"), nicht etwa Herzen, sondern Steine aus dem Publikum entgegen - und Häme aus den Zeitungen. Nach gut einem Jahr löste der Verein sich auf.

Nach Specht, der späteren Kabarettistin und überzeugten Junggesellin, sind heute Fußballpreise, ein Förderverein, eine Podcast-Seite und eine Grünanlage benannt. Nach Maria Kießling nicht mal ein Kieselstein. Sie war keine Frauenrechtlerin, hatte keine Botschaft, sie war einfach nur: gut. Das reichte für einen Karton mit Medaillen, doch es reichte offenbar nicht, um so lange in Erinnerung zu bleiben.

Maria Kießling: Urkunden zeugen noch von Maria Kießlings Leistungen.

Urkunden zeugen noch von Maria Kießlings Leistungen.

(Foto: oh)

Wie gut sie war, zeigen die Zahlen, die einerseits die schöne Eigenschaft haben, objektiv und vergleichbar zu sein, andererseits aber doch in den Kontext ihrer Zeit gehören. In eine Zeit der Aschenbahnen, ohne Spikes, ohne Leistungsdiagnostik, ohne all die schönen Errungenschaften moderner Trainingswissenschaften. In Dresden lauteten sie: 13,0 Sekunden im Sprint; 5,24 Meter im Weitsprung; 8,31 Meter im Kugelstoß; 53,0 Sekunden in der Staffel. Ein Foto von Fräulein Kießling, wie üblich ohne Vornamen, zierte das Titelbild der mitteldeutschen Sportzeitschrift Kampf.

Die Zeitungsleute waren damals nett zu dem "sehr verehrten gnädigen Fräulein" Kießling. In einem Brief mit dieser Anrede bittet ein Redakteur des Berliner Tageblatts sie 1922 um eine "Gefälligkeit literarischer Natur", um eine "kleine Plauderei" zum Thema Läuferinnen, für einen Sportspiegel, "in dem die Kapazitäten aller Sportzweige zu Wort kommen sollen". Inzwischen hatte das Fräulein Kießling sein Kunststück mehr oder minder wiederholt und in Hamburg 1921 die Titel im Sprint, Weitsprung und in der Staffel verteidigt, erneut an der Seite der Vereinskolleginnen Zenta Bauer, Maria Rädler und Emma Heiß. Im Kugelstoßen trat sie nicht an. Sie war zweifellos eine Kapazität. Allerdings muss sie zum Zeitpunkt dieser Anfrage ihre Karriere bereits wieder beendet haben.

Warum, ist nur noch schwer herauszufinden. Im Jahr 1925 heiratete Maria Kießling den Architekten Hans Döllgast. Jenen Mann, von dem es reichlich Bild- und Tonaufnahmen gibt, der an der Technischen Hochschule München dozierte, der die Siedlung Neuhausen schuf, die Pfarrkirche Hl. Blut in Bogenhausen - und der nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls als Pionier galt: für die schöpferische Wiederherstellung historischer Bauten, etwa der Münchner Residenz oder der Alten Pinakothek; der eine Art Memoiren hinterließ, das "Journal Retour", in vier Bänden; und aus dessen Feder übrigens auch der Titelschriftzug der Süddeutschen Zeitung in seiner Urform stammt. Aus Fräulein Kießling wurde also Frau Döllgast. Die Ehe der beiden blieb kinderlos.

Persönliches Wissen über Maria Kießling ging verloren

"Sie war Weltklasse", betont Karl Rauh, der Leichtathletik-Abteilungsleiter des TSV 1860 München, und er übertreibt nicht. Wer Maria Kießlings Zahlen vergleicht, stellt fest: Sie hielt mehrere Weltrekorde, auch wenn sie nie als solche geführt wurden. So war ihr deutscher Weitsprung-Rekord von 5,54 Meter zwischen 1921 und 1927 weiter als der gültige Weltrekord, erst dann gelang es der Britin Muriel Gunn, ihn zu übertreffen. Der zuständige Internationale Frauenverband, der die Rekorde führte, wurde erst 1922 gegründet, außerdem war Deutschland als Folge des Ersten Weltkriegs ohnehin kein Mitglied. Ähnlich verhielt es sich mit den 12,8 Sekunden, die Kießling 1921 in Hamburg lief, und den 52,1 Sekunden ihrer Staffel: alles Weltrekorde, die nie als solche zählten. Zu olympischen Ehren, etwa 1920 in Antwerpen, kam Maria Kießling ebenfalls nie, weil erst acht Jahre später Leichtathletinnen an den Spielen teilnehmen durften. Deren Begründer Pierre de Coubertin hatte Frauen eher eine Rolle im Publikum zugedacht.

Maria Kießling: Maria Kießling im Trikot des TSV 1860 München.

Maria Kießling im Trikot des TSV 1860 München.

(Foto: Gerhard Graeber)

Anfang 1919, also in jenem Jahr, als in Deutschland erstmals Frauen an einer Wahl teilnehmen durften, hatte jedenfalls auch der TSV 1860 München seine Leichtathletiksparte für Frauen geöffnet, was einem Zweizeiler in der Vereinszeitschrift zu entnehmen war. Dort stand auch, dass die Deutsche Sportbehörde für Athletik gerade einen Ausschuss bestellt habe, "um unter Mitwirkung von Aerzten Richtlinien für die Beteiligung des weiblichen Geschlechts am leichtathletischen Sport auszuarbeiten". Maria Kießling beteiligte sich. Sie sammelte Titel und Medaillen.

Diesen und vielleicht auch ihrer Lebensgeschichte kam der 1860-Abteilungsleiter Karl Rauh einmal sehr nahe. Er erinnert sich an ein Treffen mit Franz Kießling in Starnberg. Zwölf Jahre ist das her. Kießling, ein Neffe der Leichtathletin, hatte ebenfalls als Architekt Karriere gemacht, war bereits ein betagter Herr, verwaltete den umfangreichen Nachlass seines Lehrmeisters Hans Döllgast, der 1974 gestorben war, und besaß auch Andenken an Maria Döllgast, Pokale und Medaillen. Der TSV 1860 wiederum, der ein Sportmuseum anstrebte, nicht zuletzt um den Nachlass seines ehemaligen Präsidenten Adalbert Wetzel aus dem Olympiastadion zu bergen, hätte diese Erinnerungsstücke gerne übernommen. Doch dann zerschlugen sich die Museumspläne, so Rauh, Tagesgeschäfte seien mal wieder wichtiger gewesen. Der Kontakt brach ab. Franz Kießling und dessen Frau starben vor sieben Jahren. Die Nachlässe verwaltet nun eine Stiftung. Die Medaillen lagern im Speicher. Und Franz Kießlings persönliches Wissen über seine Tante ist für immer verloren.

Wie so vieles. Der Deutsche Leichtathletik-Verband winkt schnell ab: keine Quellen aus dieser Zeit. Der Bayerische Leichtathletik-Verband bemüht sich zu helfen, empfiehlt für die Spurensuche seinen ehemaligen Archivar Heinrich Lange, inzwischen über 80. Doch der Rentner erzählt, er habe fast alles, was er in 40 Jahren gesammelt und aufgearbeitet habe, vor zwei Jahren "zu einem Container gebracht und zerfetzen lassen". 370 Ordner - "weil es keiner haben wollte. Ich habe wirklich geweint". Dem Verband habe die Lagerfläche gefehlt. Anfragen bis aus Australien habe er früher bekommen, bis heute kämen immer wieder neue. Offenbar ein häufiges Problem, bestätigt Christian Gadenne, Geschäftsführer der LG Stadtwerke München. Man sehe das auch an manch lückenhaften, nicht aktualisierten Rekordlisten, die alle mal von jenen akribischen Statistikern und Chronisten in Handarbeit geführt wurden, die nun immer weniger werden. Sie hinterlassen, irgendwo auf halbem Weg zur Digitalisierung, ein Loch, "das vielleicht nie zu füllen sein wird". Der ehrenamtliche 1860-Archivar Oliver Buch erinnert sich an den umfangreichen Nachlass eines Münchner Sportjournalisten, unzählige Fotos und Dokumente, an dem ebenfalls niemand Interesse gezeigt habe.

Und so zuckt schließlich auch Maria Nüßler bedauernd mit den Schultern. Die Regensburgerin sitzt in einem schicken alten Münchner Stadthaus an der Ringseisstraße. Auch sie trug bis zur Hochzeit den Namen Maria Kießling, sie ist die Nichte von Franz und eine Großnichte jener Maria Kießling, die später Döllgast hieß. Viele alte Fotos hat sie mitgebracht, und mit erkennbarer Freude präsentiert sie drei Urkunden, die sie noch aufgestöbert hat, für deutsche Rekorde in den Jahren 1919 und 1920. Alle DIN-A-3-groß, gerahmt und hinter Glas. Sie würde gerne viel mehr helfen, versichert sie, doch sie hat lediglich eine vage Kindheitserinnerung an Hans Döllgast, überhaupt keine an dessen Gattin.

"Frauen liefen damals eben unter ferner liefen", erklärt sie, "da wurde kein Tamtam gemacht und nichts aufgeschrieben." Ihr Onkel, sagt sie, hätte sicher noch mehr zu erzählen gewusst. Einen älteren und einen jüngeren Bruder habe ihre Großtante gehabt, weiß Maria Nüßler. Dieses Stadthaus hier hätten deren Eltern auf Kredit erworben, weil sie für die fünfköpfige Familie in München keine bezahlbare Mietwohnung gefunden hätten, "damals schon nicht". Die erwachsene Maria Döllgast habe sie selbst nie getroffen. Sie habe in München "sehr zurückgezogen" gelebt, sogar von ihrer Familie. Zuletzt offenbar umgeben von viel Papier, wie Maria Nüßler aus Erzählungen weiß. "Sie hat jede Zeitung, jedes Blatt aufgehoben." Vielleicht ja sogar jenen kleinen Textschnipsel, in dem die SZ am 31. Januar 1974 daran erinnerte, dass die ehemalige Rekordhalterin Maria Kießling "als Frau von Professor Döllgast ihren 80. Geburtstag" feiert. Wenige Wochen nach diesem Achtzeiler in der Rubrik "Aufgeschnappt" starb ihr Mann, Maria Döllgast zehn Jahre später, 1984. 90 Jahre wurde sie alt. Maria Nüßler zählt sicherheitshalber noch einmal nach, dann sagt sie: "Fünf." So viele Menschen seien damals zur Beerdigung gekommen. Das Grab der Döllgasts am Ostfriedhof gibt es noch.

Der TSV 1860 München hat inzwischen eine neue Abteilung für Vereinsgeschichte gegründet. Es heißt, die Architektur-Stiftung von Franz Kießling und seiner Frau, die natürlich ebenfalls Maria hieß, wäre nach wie vor bereit, den Nachlass der Leichtathletin an ein Vereinsmuseum zu übergeben. Mit allem, was in den verbliebenen Kartons noch an sie erinnern mag.

Zur SZ-Startseite
Edberg

Tennisspieler Stefan Edberg
:Niemand warf den Ball höher

Sein Aufschlag war ikonisch, sein blonder Seitenscheitel fein gezogen: Vor 30 Jahren erklimmt Stefan Edberg die Weltranglistenspitze - und mopst Boris Becker große Titel.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: