Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Abstand

Tobias Giehl war einer der besten 400-Meter-Hürdenläufer Deutschlands, einige große Ziele aber hat er verpasst. Nun lässt er seine Karriere wohl ohne Verpflichtungen austrudeln.

Von Andreas Liebmann, Gräfelfing/München

Keine Spikes, keine Stoppuhr, keine Bundestrainer, nichts. Nur Strand und Berge und Urwald und was es eben sonst so zu erkunden gab in Chile, Bolivien, Peru und Costa Rica. Sechs Wochen hat Tobias Giehl sich Ende vergangenen Jahres Zeit genommen, um etwas völlig Verrücktes zu machen: echten Urlaub, gemeinsam mit seiner Freundin. "Das war mal Zeit", findet der 27-Jährige. Als einer der besten 400-Meter-Hürdenläufer des Landes war ihm so etwas bislang nie vergönnt gewesen, allerhöchstens ein oder zwei Wochen im Jahr habe er sich irgendwo "abgezwackt" von seinem Sportleralltag - als Student, wohlgemerkt. Auch darüber hat er viel nachgedacht in den beiden Abschlusswochen in Costa Rica. Über Sinn und Unsinn des Leistungssports. Über Aufwand und Ertrag. Über seine Zukunft.

Und nun? Tobias Giehl, der viermal Silber gewonnen hat bei deutschen Meisterschaften, dazu zweimal Gold in der 4×400-Meter-Staffel, der in zwei Halbfinals stand bei Europameisterschaften, 2012 in Helsinki und 2016 in Amsterdam, der oft verletzt war und seine Ziele in den vergangenen Jahren meist verfehlte, wird seine Laufbahn also nun... - nein, nicht beenden. Eher unterbrechen. Vermutlich austrudeln lassen. Richtig klar ist ihm das auch im Urlaub nicht geworden. Klar ist: "Ich werde den Aufwand deutlich reduzieren." Weniger trainieren. Sich um seine Masterarbeit kümmern. Vielleicht werde er seinen Sport 2020 noch mal etwas forcieren, er habe das "im Hinterkopf", sagt er, aber "ohne höhere Ansprüche". Dass er noch einmal international in Erscheinung treten werde, glaubt er selbst nicht. Dem Bundestrainer habe er in einem Gespräch erklärt, dass er "keine Ambitionen mehr" auf einen Platz im Perspektivkader habe, sofern dieser überhaupt noch einen Gedanken in eine solche Richtung gehegt haben sollte. "Es gibt so viele junge Leute, die versuchen, international erfolgreich zu sein, da wäre es nicht zu rechtfertigen, dass ich denen einen Platz wegnehme", findet er.

Die Karriere, die Tobias Giehl bislang hatte, ist damit wohl zu Ende. Er will noch ein bisschen weiter trainieren und laufen, weil ihm das viel bedeutet. Er hat zum Jahresende die LG Stadtwerke München verlassen, auch das war so ein Punkt, an dem er zwangsläufig über Vergangenheit und Zukunft nachdenken musste. Denn er ist mit seiner gesamten Trainingsgruppe um den deutschen 400-Meter-Meister Johannes Trefz mitgegangen, die sich für einen Wechsel zum TSV Gräfelfing entschieden hatte. "Ich wollte einfach mitwechseln, und ich finde das Projekt dort sehr interessant", sagt er, aber er sei keinerlei Verpflichtungen eingegangen. Für 2019 kann er ohnehin nicht viel von sich erwarten, "mir fehlen jetzt schon drei, vier Monate", weiß er. Und es wird immer deutlicher, dass sich sein Weg und der seines langjährigen Kumpels Trefz trotz des gemeinsamen Vereinswechsels auseinanderbewegen. Trefz war kürzlich in Südafrika - nicht im Urlaub, sondern in jenem obligatorischen Trainingslager, an dem auch Giehl früher teilnahm. Auf solche Reisen verzichtet Giehl jetzt. Vielleicht werde er seine Gruppe mal für eine Woche nach Italien begleiten, gemeinsam bilden sie eine sehr schlagkräftige Staffel. Mehr sicher nicht. Trefz hat gerade zwei neue Hallenbestzeiten aufgestellt und tritt an diesem Wochenende bei den deutschen Meisterschaften in Leipzig an.

Natürlich gibt es einen Wikipedia-Eintrag über Tobias Giehl. Der sagt sogar viel aus über den gebürtigen Münchner, der in Gilching mal als Handballer begann. Denn dort hat sich in die Auflistung seiner Erfolge gleich in den zweiten Satz ein falscher Name gemogelt: Anstelle von Giehl wird ein gewisser "Hoffmann" deutscher U-20-Meister. Vermutlich handelt es sich um Jürgen Hoffmann, einen seiner ersten Trainer, ein Fauxpas, der beim Kopieren eines Textes passiert sein dürfte. Jedenfalls heimst Hoffmann über mehrere Absätze Giehls Erfolge bis 2016 ein. "Ach, das steht da schon immer", bestätigt Giehl schulterzuckend, "keine Ahnung, wer das verfasst hat oder wie viele Menschen sich so etwas überhaupt ansehen." Eitel ist er nicht.

Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass dieser Eintrag gründlich überarbeitet worden wäre, wenn Giehls Laufbahn eine Winzigkeit anders verlaufen wäre. 2016, als die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro stattfanden; oder 2018, als die Heim-EM in Berlin ausgetragen wurde. Giehl war in der Form seines Lebens 2016, er stand im vorläufigen Aufgebot des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB), war bereits für Rio eingekleidet worden und mit all den anderen Nominierten in Kienbaum ins Trainingslager gegangen - dann musste er abreisen. Mehrere Bestzeiten hatte er zuvor aufgestellt, die letzte kurz vor Ende der Frist in Mönchengladbach, 49,48 Sekunden, bis heute seine Bestmarke. Doch damit fehlten ihm winzige acht Hundertstelsekunden zur olympischen Norm, und die Hoffnung des DOSB auf Giehls nachträgliche Einladung durch den Weltverband erfüllte sich nicht.

Bald darauf stellte man bei Giehl ein Hüftleiden fest, eine so genannte Cam-Deformität des Oberschenkels, die nächste Saison musste er wegen zweier aufwendiger Operationen absagen. 2018 kämpfte er sich zurück, näherte sich der EM-Norm für Berlin an, trotz der langen Pause, trotz anfänglicher Schmerzen, trotz "riesiger muskulärer Baustellen", wie er sagt: "Ich hätte mir Berlin zugetraut, die Entwicklung ging vorwärts. Und ich bin ein Wettkampftyp." Doch in der entscheidenden Phase, kurz vor einem Weltcup in London, brach er sich bei einem Sturz einen Handwurzelknochen. Erneut wurde er operiert. Eine Woche später fanden die deutschen Meisterschaften in Nürnberg statt, Giehls letzte Chance: Er wurde nur Vierter, in 51,48 Sekunden. Allein schon wegen der Schmerzmittel in seinem Körper sei es im Nachhinein "erstaunlich" gewesen, "dass ich überhaupt so gut abgeschnitten habe".

"Dieser Moment ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen", sagt Giehl. Und weil er den Sommer nach dieser nächsten Enttäuschung eher "mit Verdrängung" verbrachte, "war es jetzt nötig, dass ich mir mal Gedanken mache. Diesen Abstand habe ich gebraucht". Viel Grundsätzliches sei ihm in Costa Rica durch den Kopf gegangen: Dass sein Studium (Umweltingenieurwesen) bald endet, wie es danach weitergeht, natürlich auch, "dass es häufig nicht geklappt hat mit den großen sportlichen Erfolgen" - trotz all der Opfer, die er im Laufe der Jahre gebracht hat. "Rein zeitlich", sagt er, "hätte ich mir diese Saison schon noch rausquetschen können."

Eines ist Tobias Giehl in Costa Rica indes auch aufgefallen, und das ist unabhängig davon, ob es das nun ganz oder erst halb gewesen ist mit seiner Sportkarriere: "Mir ist bewusst geworden, wie viel ich erlebt, erfahren und erreicht habe. Auch das sieht man mit etwas Abstand besser."

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Quelle:
SZ vom 15.02.2019
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