Süddeutsche Zeitung

Kusocinskidamm:Der Held von nebenan

In seiner Heimat wird der Läufer Janusz Kusocinski bis heute verehrt. Als erster Mann, der für Polen Olympiagold gewann. Und als Widerstandskämpfer, der von den Nazis ermordet wurde.

Von Andreas Liebmann und Dietrich Mauersberg

Man sollte so viel mehr wissen über den kleinen Mann mit der schiefen Nase. Sein Weg führt mitten durch den Nordteil des Münchner Olympiaparks, es ist ein langer, ein exponierter Weg. Wer ihn betritt, lässt zunächst einmal jene tristen Häuserschluchten hinter sich, die hier vor einem halben Jahrhundert aufgeschachtelt wurden, als Olympia-Pressestadt für die Spiele von 1972. Unzählige Hobby- und Leistungssportler haben den Kusocinskidamm seitdem als Joggingstrecke auserkoren, doch die wenigsten wissen etwas über seinen Namensgeber. Dabei ist dessen Schicksal so eng mit dem Deutschlands verknüpft. Die Nazis haben ihn schließlich umgebracht, den kleinen Mann, im Sommer vor 80 Jahren.

"Ich glaube, jeder kennt diesen Namen" - mit diesem Satz beginnt die Journalistin Malgorzata Smolinska ihren Text in der Warschauer Ausgabe der Gazeta Wyborcza, Mitte Januar 2017. Da wäre Janusz Kusocinski 110 Jahre alt geworden. Smolinska hat natürlich Recht, jeder kennt diesen Mann - in Polen. Nicht nur sie hat oft über ihn geschrieben, große Porträts, in Tageszeitungen, Laufmagazinen. Sein Leben wurde verfilmt. Mehrere Dutzend Schulen sind nach Kusocinski benannt, Straßen, Sportstadien, ein Park. Es gibt Lieder und Gedichte über den ersten Mann, der für Polen eine olympische Goldmedaille gewann. Die erste Frau, Diskuswerferin Halina Konopacka, war vier Jahre früher dran, 1928. Kusocinski wird bis heute verehrt in seiner Heimat. Jedes Jahr seit 1954 wird in Warschau ein internationales Leichtathletik-Sportfest zu seinem Gedenken ausgetragen. In Deutschland gibt es nur diesen Damm. Nicht viel, aber es gibt ihn.

Sein Laufstil ist fürchterlich. Seinen größten Erfolg erringt er mit blutenden Füßen

Ein schwarzes Infotäfelchen hängt unter dem ersten Straßenschild. Wer es entdeckt, weiß schon mal: "1932 Olympiasieger im 10 000-Meter-Lauf." Und: "Als Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung bei Warschau ermordet." Es ist früher Abend, junge Mütter schieben Kinderwagen vor sich her, neongelbe Jogger schnaufen vorbei, mit Mundschutz gegen die Kälte. Ob man mal einen anhalten und fragen sollte, wer Kusocinski war?

Gleich hinter den Hochhäusern gibt es eine seltsame Assoziation. Überwucherte Gleise laufen unter dem Damm entlang, der hier eine Brücke bildet. Links enden sie im Nichts, die Schienen wurden abgetragen. Rechts führen sie zu einem stillgelegten Bahnhof. Geisterbahnhof wird er genannt. Nur 1972 war er richtig ans S-Bahnnetz angebunden, der "Bahnhof München Olympiastadion". Bis zur Fußball-EM 1988 wurde er sporadisch genutzt, seitdem verfällt er. Unter einer zweiten Brücke stecken Autos im Berufsverkehr fest, statt der Motoren hört man den Lärm von Krähen. Sie sitzen zu Hunderten auf den Fußballplätzen, die links und recht den Weg säumen. Es gibt ein Lied der österreichischen Band STS über einen verlassenen Bahnhof und Gleise, die sich im hohen Gras verlieren. "Langsam wird's Abend, und die Krähen schrei'n, Sie hab'n auch Grund genug", heißt es da. Allerdings geht es darin um die Ermordung der Juden. Es ist eine Assoziation, die etwas in die Irre führt.

Janusz Tadeusz Kusocinski kommt 1907 in Warschau zur Welt. Er wächst in Oltarzew auf, einem Dorf in der Nähe, wo seine Eltern einen Bauernhof gekauft haben. Fünf Geschwister hat er, der älteste Bruder stirbt während des Ersten Weltkriegs, der zweite 1920 während des polnisch-sowjetischen Krieges. Die Eltern schicken ihn auf eine Gartenbauschule, doch das Lernen behagt ihm nicht. Vor allem der Vater hält von den sportlichen Aktivitäten seines Sohnes etwa das, was man erwarten darf, wenn einer, der mal den Hof übernehmen soll, lieber nutzlos in der Gegend herumrennt. "Er wollte mir die Liebe zum Lernen vermitteln", schreibt Kusocinski später, doch es wäre wohl einfacher gewesen, "einem Astronomen beizubringen, über eine Stange zu springen", als ihn zur Beschäftigung mit dem Einmaleins zu zwingen.

Von klein auf spielt er Fußball. Als er 18 ist, so erzählt es Smolinska, fehlt dem Arbeiterklub Sarmata ein Läufer für eine Staffel, sie holen den Fußballer Kusocinski von der Tribüne - und siegen. Trotz eines offenbar fürchterlichen Laufstils, den Kusocinski erst spät etwas flüssiger hinbekommt. Er fliegt nicht, er schuftet sich vorwärts. 1,65 Meter klein sei er gewesen, "sein Hals steckte in den Schultern", und die schiefe Nase: Man erzählt, er habe sie sich als kleiner Junge selbst verbogen, durch ständiges Wischen mit dem Ärmel von links nach rechts. Als die Mutter das erkennt, ist es zu spät, der Knorpel verwachsen.

Man kann vieles nachlesen über Janusz Kusocinski, allerdings nur auf Polnisch. Die Sprachbarriere ins Nachbarland hat einzig ein Wikipedia-Beitrag überwunden. Wer sich die Mühe macht, Texte durch Übersetzungsmaschinen zu jagen, kann sich danach entscheiden, ob wohl "gehörnte" oder "geile Seele" eine treffendere Übersetzung ist - für etwas, das wohl vielmehr ein "hartes Gemüt" bedeuten soll.

Janusz Kusocinski wechselt zur Leichtathletik, trainiert wie verrückt, instinktiv und autodidaktisch, weil das polnische Sportsystem nicht mehr zu bieten hat. Später wird er vom Esten Aleksander Klumberg betreut, 1924 in Paris Olympiadritter im Zehnkampf. Er trainiert ihn nach Methoden, mit denen die Finnen damals auf Langstrecken erfolgreich sind.

Kusocinski träumt von den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam. Zu den Arbeiterspielen in Prag, seinem ersten Wettkampf im Ausland, reist er in der dritten Klasse, seine Mahlzeit davor besteht aus Bier und Knödeln. Er wird Zweiter über 1500 Meter. Amsterdam verpasst er.

Die Wintersonne steht tief. In einem großen Bogen führt der Kusocinskidamm am olympischen Dorf entlang. Auch heute wohnen dort noch Münchner Leichtathleten. Der El-Thouni-Weg geht ab, erinnert an einen ägyptischen Gewichtheber. Nach dem Nadisee geht es über die Connollystraße hinweg, ein italienischer Fechter und ein US-amerikanischer Dreispringer also, der erste Olympiagewinner der Neuzeit. Dann die Anlagen des Zentralen Hochschulsports. Kusocinski wird später übrigens sein Abitur nachholen und sich an einer Sportuni einschreiben.

Als Janusz Kusocinski am 31. Juli 1932 am Start des olympischen 10 000-Meter-Laufs steht, hat er eine Stoppuhr in der Hand. Angeblich hätte er seine Laufbahn drei Jahre zuvor um ein Haar beendet, nach dem Tod seiner Schwester, der ihn tief traf, und wegen einer schweren Knieverletzung, die er von einem Länderkampf mitgebracht hatte. Doch dann habe ihn sein aus Lettland eingebürgerter, verhasster Dauerrivale Stanislaw Petkiewicz auf einem Flur des Vereinsgeländes im Vorbeigehen ignoriert, wie Luft behandelt. Aus Wut darüber soll Kusocinski doch wieder zu trainieren begonnen haben. Wie ein Besessener rannte er fortan im blauen Trainingsanzug durch Warschauer Parks und Straßen, erinnert sich der Sportjournalist Bohdan Tomaszewski, Passanten hätten ihm verständnislos den Vogel gezeigt. Bald bricht er Landesrekorde, will alle Bestmarken von Petkiewicz auslöschen, wird zum Star. Duelliert sich im ausverkauften Warschauer Legia-Stadion mit dem übermächtigen Finnen Paavo Nurmi, dessen Tempo er lange mithält, ehe er auf der letzten Runde etwas den Anschluss verliert. Im Olympiajahr ist er 25 und in der Form seines Lebens, er hat Weltrekorde aufgestellt über 3000 Meter (8:18,8 Minuten) und über vier Meilen (19:02,6). Er ist auf der luxuriösen RMS Mauretania nach Los Angeles gereist, während der Rest des polnischen Teams in einem normalen Dampfer steckte, und muss sich dort nun mit den Finnen Volmari Iso-Hollo und Lasse Virtanen messen. Petkiewicz und Nurmi haben vor den Spielen ihren Amateurstatus verloren.

Das Duell mit Iso-Hollo wird zur Tortur. Kusocinski hat sich Spikes besorgt, die ihm nun die Fußsohlen aufschneiden, er schleppt sich, den Verfolger im Nacken, dem Ziel entgegen, mit blutenden Füßen. Kurz vor dem Band bleibt er fast stehen - sein olympischer Rekord von 30:12,6 Minuten wird dennoch 22 Jahre lang Bestand haben. An einen 5000-Meter-Start ist nicht mehr zu denken. Bei der Rückreise werden die polnischen Athleten als Helden empfangen. Kusocinski veröffentlicht seine Memoiren, muss dann aber lange aussetzen. Wasser in beiden Knien, ein Meniskusschaden. Einmal gewinnt er noch EM-Silber, doch an den Olympischen Spielen in Berlin kann er nur als Journalist teilnehmen. Helsinki 1940 wird nicht mehr stattfinden.

Seine Mitstreiter haben Angst, er könnte auspacken, doch er hält der Folter stand

Nach der großen Kurve hat man vom Kusocinskidamm aus einen schönen Blick auf den Olympiaturm und jene Zeltdächer, deren Anblick die Spiele von 1972 prägten. 65 Jahre wäre Kusocinski damals gewesen, doch er erreicht nur die Hälfte dieser Lebenszeit. 1939 wird er ein letztes Mal Landesmeister über 5000 Meter. Nach dem deutschen Überfall auf Polen meldet er sich freiwillig für eine Maschinengewehr-Kompanie, will sein Land verteidigen. Wird zweimal verwundet. Arbeitet nach der Entlassung aus dem Lazarett als Kellner in der Warschauer Gaststätte "Zum Hahn", einem Sportlertreff. Schließt sich dort einer Widerstandsgruppe an, der Militärorganisation "Wölfe". Am 26. März 1940 sieht ein Hausmeister, wie Kusocinski vor seinem Haus von der Gestapo verhaftet wird. Drei Monate Folter. Später gibt es das Gerücht, er habe ein Angebot abgelehnt, die polnische Nationalität aufzugeben und Trainer der deutschen Läufer zu werden.

Der Journalist Tomaszewski berichtet von der Angst der anderen Widerstandskämpfer, Kusocinski könne einbrechen in den Verhören, auspacken, er wisse so viel. Und vom Tennisspieler Ignacy Tloczynski, der protestiert habe: Was redet Ihr da, Kusy wird niemanden verraten. Offenbar behält er Recht. Am 21. Juni 1940 wird Kusocinski mit knapp 360 weiteren Gefangenen, mit Politikern und anderen herausragenden Persönlichkeiten des Warschauer Lebens, im Wald von Palmiry, 30 Kilometer außerhalb Warschaus, erschossen.

Der Kusocinskidamm endet an einem kleinen Platz unter Bäumen. Nach links führt der Kolehmainenweg, benannt nach einem finnischen Läufer. Geradeaus die Hanns-Braun-Brücke zum Stadion. Der Olympiazweite im Langsprint aus München ist Ende des Ersten Weltkriegs als Pilot verunglückt. Rechts zweigt der Werner-Seelenbinder-Weg ab, er erinnert an einen deutschen Ringer, der im kommunistischen Widerstand aktiv war und nach der Verhaftung im Zuchthaus enthauptet wurde. Und in der Mitte? Ragen unter den Bäumen Krokusse aus der Erde. Sie sind geschlossen, es ist düster, trotzdem kniet ein Mann davor und versucht, mit seiner Handykamera ein Foto hinzubekommen.

Ein paar Meter entfernt steht der sogenannte Klagebalken. Er erinnert an das Münchner Olympia-Attentat, dem am 5. September 1972 elf israelische Sportler und ein Polizist zum Opfer fallen. Errichtet auf Initiative von Willi Daume, steht auf einem Schild. Jenem Funktionär, der die Spiele 1972 nach München brachte. Und der doch auch selbst eine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied hatte.

Das alles war nach seiner Zeit, trotzdem: Es ist wirklich nicht irgendein Weg, der hier an Janusz Kusocinski erinnert, den kleinen Mann mit dem eisernen Willen.

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SZ vom 05.03.2020
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