Süddeutsche Zeitung

Fußball:Im Reich des roten Riesen

Kneipe statt Kurve: Wo und wie Fans anderer Erstligisten in der Stadt des FC Bayern ihrer Leidenschaft frönen. Eine Reportage über Münchner Böcke, Isarfohlen und Eintracht-Adler.

Von Stefan Brunner

Fünfzehn Lokale haben wir bestimmt schon durch", sagt Dirk Weidemann und schüttelt ungläubig den Kopf. Der Mitbegründer der Isarfohlen braucht sich nicht zu wundern. Welcher Münchner Gastronom nimmt schon gern einen Fanklub auf, der weder den Bayern noch den Sechzigern huldigt? Welcher Wirt lässt freiwillig jedes Wochenende die Leinwand für Dortmund-Fans herunter oder schaltet den Receiver auf Leverkusen, schenkt das Weißbier an Hannoveraner aus oder gibt den Gladbach-Anhängern eine Bleibe?

Die Fanklubs ferner Bundesliga-Vereine haben aus nachvollziehbarem Grund alle Mühe, ein Sportlokal in München zu finden. "Wir sind wie Studenten, die von WG zu WG ziehen", sagt Weidemann und rutscht seinen Stuhl in der Curva Est zurecht, der Vereinsgaststätte des TSV München Ost, seit geraumer Zeit aber auch Hotspot der Isarfohlen. Gladbach-Fans. Über der Sitzbank ins Eck geduckt hängt der Vereinswimpel der Borussia.

Fast alle Vereine haben eine Fan-Dependance an der Isar - nur die "Retortenklubs" nicht

Ein Freitag im Dezember: 17. und damit letzter Spieltag im alten Jahr, Mönchengladbach empfängt den Hamburger SV. 20 Borussen sind gekommen, die meisten mit Isarfohlen-Schal. Corporate Design auch in der Kleingruppe. "Normalerweise sind wir 60 bis 70 Leute", sagt Joachim Bielasik. Der 45-Jährige kümmert sich um die Fan-Bedürfnisse, organisiert Tickets, das zweimonatliche Vorstandstreffen und Busfahrten zu den Spielen. Und er hält den Kontakt zur Vereinszentrale am Borussia-Park. Von dort bekommt man als offiziell anerkannter Borussen-Fanklub auch mal einen Spieler zum Plauderstündchen geschickt; zum Beispiel Raúl Bobadilla, der sich mit dem Fanklub drei Stunden zum Eisstockschießen traf.

Anpfiff. Die Gespräche am Tisch versiegen. Konzentration auf die Spielzüge. Schon nach fünf Minuten die erste Gladbacher Chance. Reece Oxford, aussichtsreich an der Strafraumgrenze, tritt mit Schmackes gegen den Ball. In der Curva Est springen alle auf, ein kurzer Moment der Euphorie, Latte, alle sinken zurück. Wenig später dann doch das 1:0, durch Thorgan Hazard. Jubel in Haidhausen. Entsetzen dagegen in Schwabing, wo sich die HSV-Clique trifft. Damals wie heute kommen sie im Barschwein in der Franzstraße zusammen. Für den Fanklub, die Isar Raute, gegründet vor zehn Jahren, verheißt der Abend im Moment nichts Gutes.

Fast alle Bundesliga-Vereine haben eine Fan-Dependance in München: die Frankfurter Eintracht hat die EFC Adler, Leverkusen die Alpenpillen, der 1. FC Köln die Münchner Böcke, die sich als Effzeh-Fanklub in der bayerischen Diaspora bezeichnen. Mit der Hertha aus Berlin fiebert die Alte Dame, mit Werder Bremen das Grün-Weiße München. Und die 96 Enklave Oberbayern schwingt die Fahne für Hannover. Mainz-Süd und die Isar-Schalkber stehen für sich. Der BVB nennt sich knapp Münchner Borussen, während der FC Augsburg unter Augusta firmiert. Die VfB-Fans aus Stuttgart haben ihren Verein Bavaria 1893 sogar eintragen lassen. Für die "Retortenklubs" aus Hoffenheim und Leipzig gibt es indes keine Unterstützung aus München, auch nicht für den Werksklub aus Wolfsburg - "dazu muss man schon etwas länger existieren", sagt der VfL-Fanbeauftragte Holger Ballwanz. Am aktuellen Wochenende sind Münchens Lokale übrigens voller "Derbys": Die Isarfohlen treffen auf Augusta, die Münchner Böcke im Abstiegskampf auf die Isar Raute, Mainz-Süd spielt gegen Bavaria 1893, die Isar-Schalker gegen die 96 Enklave Oberbayern - und dann gibt es natürlich noch den Nord-Süd-Schlager - das Grün-Weiße München muss zum großen FC Bayern. Wenn das mal gut geht.

38. Minute, fast das 2:0 für Gladbach, Mickaël Cuisance trifft wie Oxford nur Aluminium. Auch 20 Fans vermögen, ihr Raunen raumfüllend anschwellen zu lassen. Toni Iannone, der Wirt, gesellt sich dazu. Sein Vorgänger war Gladbach-Fan. Iannone, dessen Herz für die Löwen schlage, hat den Fohlen-Fanklub trotzdem übernommen. Halbzeit, die Führung ist knapp, die Entscheidung fern, die Spannung bleibt.

Vor 17 Jahren wurden die Isarfohlen geboren. Die Kunde von der Gründung erreichte sogar die mehr als 600 Kilometer entfernte Fohlen-Echo-Redaktion. Es folgte ein Bericht im offiziellen Gladbacher Fan-Organ. Auch die 125-Jahre-Schrift von Hertha BSC Berlin widmete ihren Fans im Münchner Exil ein paar Zeilen. Kleine Gruppierungen, großes Gewicht, offenbar auch für die Partnersuche. Die Fanklubs sind das neue Tinder (Dating-App). Joachim Bielasik und Claudia Louis fanden in München zu Gladbacher Glückseligkeit, Andrea Straub und Thomas Jerke sind das Vorzeigepaar von Mainz-Süd. Und auch Mario Falkenberg und Angelika von der Alten Dame teilen ihre Leidenschaften nicht nur im Fußballstadion. Gesprächsstoff? "Ja, Hertha ist schon immer wieder ein großes Thema bei uns zu Hause", verraten sie.

Die 30 Mitglieder der Alten Dame - die Gründerkontakte wurden 2013 zeitgemäß über Xing geknüpft - treffen sich im Huiras, einem Lokal ohne Fußballambiente, Pin-up-Kollagen zieren die Wand. Doch sobald das Spiel läuft, gibt es nur noch Beamer und Leinwand. Der Fanklub ist erst seit kurzem in der Gaststätte, Zurückhaltung tut not. Später mal mag man Chuzpe wie die Isar-Schalker zeigen, die den Fanklubschal auf dem Tisch ausrollen und die Fahne vors Fenster drapieren. So machen es die Gelsenkirchener im Bürgerheim.

Zweite Halbzeit. Thomas Dixius stößt zur Gladbach-Fangruppe, fiebert und schreit gleich mit, als hätte es nie etwas anderes in seinem Leben gegeben. In der 53. Minute schießt André Hahn den Ausgleich für den HSV. "Verdient", ruft ZDF-Kommentator Béla Réthy aus den Lautsprechern. "Gar nicht verdient", entgegnen Weidemann, Bielasik und Dixius. Entrüstung, gefolgt von Frust. Dixius, der 30-jährige Projektmanager, ist seit zwei Jahren in München, kommt aber aus Trier, sein Vater hat ihn früher zu jedem Heimspiel der Borussen mitgenommen. Und hier? "Nirgendwo wurde ein Gladbach-Spiel gezeigt." Gleichgesinnte fand er - wie viele, die in München nach Fußballfans aus ihrer Heimat fahnden - im Internet.

So entwickeln sich die Fanklubs, vornehmlich mit Menschen aus der Region des Vereins. Dirk Weidemann von den Isar-fohlen lebt zwar schon seit 47 Jahren in München, doch entscheidend waren die sieben Jahre zuvor, seine ersten Lebensjahre, in denen er schon Gladbach-Spiele mit seinem Vater besucht hat. Auch bei der Alten Dame kommen die Fans aus Berlin und Brandenburg. Doch es geht auch anders. "Wir haben in München schon einige Bayern und Allgäuer zu 05ern gemacht", tönen die Fans von Mainz-Süd auf ihrer Homepage. Und in der Tat, Angela Posner-Erhard aus dem Allgäu nimmt ihren Mann Peter, einen Bayern-Fan, beständig mit in die Mainzer Arena. Das Assimilationsbestreben sorgt dafür, "dass er von Saison zu Saison ein bisschen mehr 05er wird", erklärt Thomas Jerke aus dem Mainz-Süd-Vorstand. Er selbst war einst Bayern-Fan, obwohl er gleichzeitig in der D-Jugend der Mainzer gekickt hat. "Damals gab es eben noch keine Mainz-Bettwäsche." Mit dem Alter setzte sich der 05er in ihm durch.

In München sei es entspannter, sich mit dem Isar-Schalker-Schal zu zeigen, als in Dortmund

Ein Konvertierungsbedürfnis gepaart mit etwas Hohn eint die hiesigen Fanklubs. "In der Einöde von Rekord-Meistern und Möchtegern-Aufsteigern ein Ha-Ho-He erschallen zu lassen, das strammer ist als jedes bayerische Waderl", gibt die Alte Dame als Herthaner Vereinszweck aus. "Klar freut man sich, dass nicht alle dem Massenphänomen Bayern München anheim fallen", sagt Robert Olbrich von Augusta München. "Es gibt hier eben auch Menschen, die im FC Augsburg das sympathischere Vereinssystem erkennen." Die etwa 15 FCA-Anhänger treffen sich wie die Isar-Schalker und ironischerweise auch ein Bayern-Fanklub im Bürgerheim in der Bergmannstraße. Mehrere Nebenräume machen es möglich.

Bergmannstraße - klingt wie ein Motto. "Hier fühlt es sich manchmal auch an, als sei man im Ruhrpott", meint Christina Feldhaus. Wegen des Jobs kam die gebürtige Gladbeckerin, die als Kind schon mit dem Opa auf Schalke war, vor gut fünf Jahren nach München. "Mein Nachbar ist zum Beispiel auch Schalke-Fan." In München sei es entspannter, mit dem Isar-Schalker-Schal durch die Stadt zu laufen, als in Dortmund, sagt Jürgen Beierle aus dem Vorstand. Gibt es ihn also, den BVB-, HSV- und Schalke-Fan, der nicht zugereist, sondern in München geboren und sozialisiert wurde? Aufgewachsen inmitten von Roten und Blauen, ohne Lokalkolorit?

Thomas Busch, Jahrgang 1954, ist so einer. Ein echter Münchner einerseits, ein wahrer Königsblauer andererseits. "Ich bin als Zwölfjähriger mit meinen Eltern ins Ruhrgebiet gefahren." Das war's, einmal Schalke, immer Schalke, mehr sei dazu nicht zu sagen. Der Malocherverein mit unwiderstehlicher Anziehungskraft, auch für Susanne, die auf ihren Nachnamen hier lieber verzichten möchte. Warum sie sich ausgerechnet für Schalke entschieden habe? Es sei anders herum gewesen, erklärt die Münchnerin: "Schalke hat sich für mich entschieden."

Ruhrgebietsmystisch klingt es, wenn die 36-Jährige erzählt, wie sie vor 20 Jahren einer Horde Bayernfans begegnet sei und ein innerer Impuls sie "Steh auf, wenn du ein Schalker bist" hat singen lassen. "Ich habe nie Fußball verfolgt, auch meine Eltern nicht." Und auf einmal war sie da, die Lust, Sportschau und ran und damit Fußball statt Tour de France zu gucken. 1999 dann das erste Mal in Gelsenkirchen, das erste Mal auf Schalke, das erste Mal das Gefühl: "Ich bin zu Hause." 2002 schloss sie sich den Isar-Schalkern an.

In der Curva Est läuft die 74. Minute. Raffael schafft endlich Klarheit, Linksschuss, linkes Eck, 2:1. Entzücken, Abklatschen, Küsschen links, Küsschen rechts, Freude als Ritual bei den Isar-Fohlen. Im Nu wird der Torschütze zum Helden gemacht. "Weißt du noch damals gegen Bordeaux? Da hat er vier Mann ausgespielt und das 1:0 vorbereitet." Fünf Minuten später, wieder ein Tor, wieder Raffael, wieder das Ritual. 3:1. 20 Isar-Fohlen jubeln. Es klingt, als wären alle 150 gekommen.

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SZ vom 20.01.2018/cat
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