Süddeutsche Zeitung

Bouldern als Therapieform:Einem Menschen an der Kletterwand die Freiheit zurückgeben

Die Trainerin und Körpertherapeutin Melanie Michalski hat Bouldern als Behandlungsmethode für innere Konflikte erkannt. In ihrer "Kletter-Werkstatt" repariert sie beschädigte Seelen.

Von Nadine Regel

Zwei Frauen stehen vor einer Boulder-Route aus weißen Tritten und Griffen. Eine der beiden startet einen ersten Versuch, wird hektisch, klammert sich angestrengt an den Griffen fest. "Du bist nicht bei dir", sagt Melanie Michalski. Sie weist die andere an, sich locker hinzustellen und ihre Hände auf den Bauch zu legen. "Spüre in dich hinein: Was fühlst du, wenn du deine Hände auf den Bauch, deine Mitte, legst?", fragt sie. Nach kurzem Überlegen antwortet die Frau, dass da etwas Warmes sei. Geborgenheit. Sie schließt die Augen. Michalski legt ihre Hand zwischen die Schulterblätter der Frau, um den Effekt zu verstärken. Tränen rinnen über deren Gesicht. Minutenlang verharren sie in dieser Position. Dann öffnet die Frau die Augen und startet einen zweiten Versuch. Die Route gelingt ihr nicht ganz, aber Michalski attestiert ihr mehr innere Verbundenheit, mehr Ruhe.

Dass ihre Klienten in solchen Momenten weinten, komme oft vor, sagt die Kletter- und Mentaltrainerin Melanie Michalski, 38, nach der Trainingseinheit. Weinen aus Erleichterung, Einsicht, Schmerz. Sie sitzt bei einem großen Milchkaffee in einer Boulderhalle im Münchner Osten. Mit ruhiger Stimme redet sie über ihre Arbeit, fixiert mit ihren Augen ihre Gesprächspartner. Mittlerweile kämen viele Menschen zu ihr, die tief liegende Probleme mit ihr aufarbeiten wollten. Der jungen Frau von eben fehle es an der Fähigkeit, sich selbst Geborgenheit zu geben, bei anderen stellten ein geminderter Selbstwert oder diffuse Ängste Herausforderungen dar. Was sie alle eint, ist ihre Offenheit für neue Wege - sie setzen auf Bouldern als Strategie, um an Lebensthemen heranzukommen.

Erweiterung der Kletterhalle in Thalkirchen trifft auf Widerstände

Bouldern, das Klettern in Absprunghöhe, ist schon lange kein Trendsport mehr, sondern mitten in der Gesellschaft angekommen - speziell in München. Hier gibt es mit der Boulderwelt Ost und West sowie dem Einstein drei reine Boulderhallen. Zudem betreibt der Deutsche Alpenverein (DAV) zwei Kletterhallen in Freimann und Thalkirchen mit Boulderbereichen. Bouldern ist die Disziplin im Bergsport, die am meisten Zuwachs erhält. Bei einer Umfrage des DAV in München wurden die Mitglieder gefragt, wie sie ihre Freizeit verbringen. 2013 gaben 18 700 Mitglieder an, dass sie regelmäßig zum Bouldern gehen; vier Jahre später waren das schon 39 000 Menschen. Auch ein Grund, warum der Boulderbereich in der Kletterhalle in Thalkirchen modernisiert und erweitert werden soll. Die Kletter-Community ist geteilter Meinung, weil ein Teil des Außenbereichs für sie historischen Wert hat: der sogenannte Schrein. Das ist eine Betonkletteranlage, die im Jahr 1989 errichtet worden ist. Diese müsste für den Neubau abgerissen werden. "Es ist aber nur eine sehr kleine Gruppe, die sich dort regelmäßig trifft", sagt Michael Düchs. Düchs ist Teil des Vorstands im Trägerverein, der für den Ausbau zuständig ist. Für ihn überwiegen die Vorteile: Der neue Boulder-Bereich werde größer, familienfreundlicher und komplett barrierefrei. Auch für starke Boulderer sollen bessere Trainingsmöglichkeiten geschaffen werden. Die Modernisierung ist für kommenden Herbst geplant - wenn die Bürgerversammlung und der Bezirksausschuss in Sendling zustimmen. Denn auch hier regt sich Widerstand, weil die Anwohner einen wachsenden Andrang befürchten. "Völlig unbegründet", sagt Michael Düchs.

Eine Patientin, sagt Melanie Michalski, hatte durch einen Unfall das Vertrauen in ihren Körper verloren. Vor dem Unfall sei sie sportlich gewesen, ging klettern. Als sie zu ihr ins Klettercoaching kam, war sie verzweifelt, weil sie keine Route mehr durchsteigen konnte. "Ihr neuer Glaubenssatz war: Mein Körper geht kaputt", sagt Michalski. Durch das Training und das behutsame Ausprobieren von Routen ohne Leistungsdruck erlangte sie schrittweise Vertrauen in ihren Körper zurück. "Wir haben eine bestimmte Vorstellung, wie wir zu sein haben", sagt Michalski. Dabei gehe der Bezug zum eigenen Körper verloren.

Bouldern sei als körpertherapeutische Methode gut, weil man den Körper nicht mehr als Maschine ansieht, sondern den Sport mit Gefühlen verknüpfen kann - und viel achtsamer mit sich selbst umzugehen lernt. Beim Bouldern wüchsen ihre Klienten ein Stück über sich hinaus. "Das setzt neue Lebensenergie frei", sagt Michalski. Die gebürtige Münchnerin ist systemische Körpertherapeutin, DAV-Trainerin im Sportklettern und Mitglied des DAV-Lehrteams. Vor fünf Jahren gründete sie die "Kletter-Werkstatt", in der sie individuelles Training anbietet. Ursprünglich zielte ihre Arbeit darauf ab, die sportlichen Leistungen ihrer Klienten zu verbessern. Nun ist eine weitere Dimension hinzugekommen. "Klettern ist für mich die beste Therapie", sagt Michalski. Wenn irgendwas beim Klettern nicht funktioniere, dann gelte das meistens auch für andere Lebensbereiche, zum Beispiel in der Partnerschaft. Beim Bouldern und Klettern komme sie an den Sitz des eigentlichen Problems. Dieses Potenzial will sie auch bei anderen nutzen.

"Je verrückter das Setting, desto leichter wird es"

Dass sich Sport positiv auf die Psyche von Menschen auswirken kann, ist nicht neu. Eine Studie an der Universität Erlangen hat den speziellen Effekt des Boulderns auf Patienten untersucht, die unter Depressionen und Burnout leiden. Das vorläufige Ergebnis attestiert dem Bouldern, dass es als Körpertherapie ergänzend zu klassischen Ansätzen angewandt werden kann. Auch wenn es beim Bouldern nicht mit jedem Zug ums Überleben geht: Der nächste Tritt oder Griff erfordert die Konzentration auf das Hier und Jetzt und zwingt Patienten dazu, sich aus der endlosen Gedankenspirale zu lösen. Auch der soziale Aspekt spielt eine Rolle. Patienten kommen aus ihrer Isolation und feiern mit jeder gelösten Route kleine Erfolge.

Allein schon die Boulderhalle als alternativer Therapieraum erleichtert die Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Patient. Melanie Michalski hat früher Sitzungen nur in der Praxis abgehalten. Viel zu beengend. "Da war man vom ersten Moment an in einer Problemtrance drin", sagt sie. Ihr neues Motto lautet: "Je verrückter das Setting, desto leichter wird es." Eine therapeutische Begleitung der Patienten sei dennoch unerlässlich, weil Themen, die in der Boulderhalle aufkämen, zusätzlich aufgearbeitet werden müssten. Michalski setzt sich auch für Menschen mit Multipler Sklerose ein. Das Klettertraining helfe ihnen, motorische Fähigkeiten zu verbessern und neues Selbstvertrauen aufzubauen. "Es ist unglaublich beglückend, einem Menschen an der Kletterwand ein Stückchen Freiheit zurückzugeben", sagt Melanie Michalski beim Gang aus der Halle.

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SZ vom 08.03.2019/smb
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