Süddeutsche Zeitung

75 Jahre Bayerischer Landes-Sportverband:Massenbewegung im Schmelztiegel

Kind der Demokratisierung: Der BLSV zwischen "Leibesübung", Corona und Gewaltprävention.

Von Johannes Schnitzler

Die vergangenen Wochen waren emotional schwierig für Jörg Ammon. Corona, klar, die "größte Herausforderung seit 75 Jahren", sagt der Präsident des Bayerischen Landes-Sportverbandes. Wegen des Virus musste er alle Feiern zum 75. Geburtstag des BLSV an diesem Samstag abblasen. Man könne in so einer Zeit "nicht Riesenpartys schmeißen", das sei "auch eine moralische Frage".

Und dann war da ja noch der "Club".

Ammon, 49, ist in Nürnberg geboren. Als Junge hat er Fußball gespielt, "leidenschaftlich", hat Judo betrieben, um dann mit noch größerer Leidenschaft Tennis zu spielen, für den 1. FCN - den "Club". Das mache einen nicht automatisch zum Fan. Aber wenn die Fußballer in die Relegation müssen und eher steifbeinig auf dem dünnen Seil zwischen zweiter und dritter Liga staksen, kann man sich dem als Nürnberger nicht entziehen. "Man leidet mit dem Verein", sagt Ammon. "Und das ab Geburt."

Für den Club ist es gerade noch mal gut gegangen, durch ein Tor in der Nachspielzeit. Viele Vereine aber stehen ausgerechnet jetzt, im Jubiläumsjahr des BLSV, vor existenzbedrohenden Problemen. Zu Beginn, sagt Ammon, war es noch relativ einfach. Nichts ging mehr, das haben alle verstanden. Durch die Lockerungen auch im Sport entstehen nun neue Fragen. Wer darf wann was, und warum die einen schon, die anderen aber noch nicht wieder? Und: Wie lange soll das noch so weitergehen?

Die Agenden zu moderieren von 56 unter dem Dach des BLSV organisierten Fachverbänden - von Badminton bis Taekwondo, von Breiten- bis Profisport -, ist angesichts wieder steigender Infektionszahlen und vor der Frage, was im Herbst und Winter passiert, wenn sich das Sportgeschehen in die Hallen verlagert, eine doppelte Herausforderung. Der BLSV befinde sich in einem "enormen Spannungsverhältnis", vielen dauert vieles zu lang. Das Motto sei, Sport für alle zu gestalten, sagt Ammon. "Wir brauchen eine Sensibilität dafür, was notwendig ist und was wünschenswert, damit es zu keinen Verwerfungen kommt. Aber wir werden nicht jedes Problem lösen können, so ehrlich muss man sein." Sport tue der Gesundheit gut - "bloß nicht, wenn die Menschen krank sind".

Wie der Club, so stehe der BLSV vor einer "Wiederauferstehung", genau wie bei seiner Gründung am 18. Juli 1945, nur zwei Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals sei "viel Aufbauarbeit zu leisten gewesen" - genau wie heute, wenn auch in einer völlig anderen Dimension.

Warum trafen sich damals, als Bayern in Schutt und Trümmern lag, Menschen, um sich "freiwillig in der Gemeinschaft zum Besten der Leibesübungen zusammenzuschliessen", wie es in der Ur-Satzung des BLSV heißt? "Man war froh, dass das alles hinter einem liegt", sagt Ammon. Es sei darum gegangen, in einen Alltag zurückzufinden. Heute wie damals spielt der Sport bei der Rückkehr zum Status quo ante eine zentrale Rolle. "Es gibt eine Sehnsucht nach Normalität", hat BLSV-Geschäftsführer Thomas Kern erspürt.

"Gott sei Dank leben wir seit 75 Jahren in Frieden und Freiheit und in einem sehr ordentlichen Wohlstand", sagt Jörg Ammon. Das lasse sich auch an den Mitgliederzahlen ablesen. 1945 gehörten 0,1 Prozent der bayerischen Bevölkerung einem Sportverein an; heute sind es 34 Prozent.

Ammon ist Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Ein Zahlenmensch. Vor ein paar Jahren hat er Triathlon und Ausdauersport für sich entdeckt. Am Handgelenk trägt er eine dieser Uhren, die einem Zeit, Pulsschlag, Blutdruck und wahlweise auch die Börsenkurse aus Taipeh anzeigen. Er sei ein kompetitiver Typ, einer, der sich gern an sich selbst misst. Zahlen sind dabei gute Indikatoren. Seine Lieblingszahl lautet: 4,6 Millionen. So viele Menschen gehören dem BLSV an. Ammon ist sich der Verantwortung bewusst, die aus solchen Zahlen erwächst. Noch einmal blickt er zurück, in die Zeit vor der Gründung des BLSV. Der Nationalsozialismus sei "ja nicht wie ein Wolkenbruch über Deutschland gezogen", kurz und plötzlich und dann ist's vorbei. Vorausgegangen sei eine Entwicklung, an der auch der Sport beteiligt war, "das muss man klar einräumen". An der Schwelle zum 20. Jahrhundert diente Sport im Geist von Turnvater Jahn vordergründig der Leibesertüchtigung. Der kaum kaschierte Zweck des Laufens und Springens aber war die Kräftigung des Nationalbewusstseins, die paramilitärische Stärkung des Volkskörpers für den Einsatz unter Waffen.

Sport hatte eine "militärische Facette", sagt Ammon - und zugleich eine demokratische. Dafür muss man noch ein Stück weiter zurückgehen in der Geschichte.

Im Kaiserreich war das Elitedenken noch stärker ausgeprägt, die Beteiligung der Masse am politischen Prozess nicht erwünscht. Sportvereine galten als Brutstätten für umstürzlerische Gedanken. Auch das kann man an Zahlen ablesen: Um 1860 und 1880 gab es regelrechte Gründerwellen. Davor und dazwischen waren Sportvereine immer wieder verboten. Begriffe wie Vereinsmeierei und Stammtischwesen klingen heute dumpf. Damals hätten sie zur Demokratisierung beigetragen, sagt Ammon. Der älteste Verein in Bayern "ist übrigens in Nürnberg gegründet worden", der Turn- und Sportverein von 1846.

Zweitgrößter Landessportverband in Deutschland

4,6 Millionen Mitglieder hat der Bayerische Landes-Sportverband. Mit mehr als 11000 Vereinen, fast 91000 Übungsleitern und etwa 300000 Ehrenamtlichen ist er die größte Personenvereinigung Bayerns, der zweitgrößte Landessportverband nach Nordrhein-Westfalen und eines der einflussreichsten Mitglieder im Deutschen Olympischen Sportbund. 36 der 56 Sportfachverbände sitzen buchstäblich unter seinem Dach - im 13500 Quadratmeter großen "Haus des Sports" am Münchner Georg-Brauchle-Ring. Neben organisatorischen Aufgaben betreibt er Sportcamps in Inzell, am Spitzingsee und im Bayerischen Wald sowie die Sportschule Oberhaching.

Dass der Ministerpräsident wie er aus Nürnberg stammt und dass auch der Innenminister, in dessen Ressort der Sport fällt, ein Franke ist - Zufall, sagt Ammon. "Wenn man die Geschichte Bayerns betrachtet, haben die Franken den Bayern aber noch nie geschadet." Er lacht. In Anbetracht der Herausforderungen, vor denen der BLSV steht, muss es kein Nachteil sein, wenn man dieselbe Zunge spricht. Während sich die Gesellschaft kontinuierlich ausdifferenziert und individualisiert, tradierte Bindungen in Glaubensgemeinschaften, gewerkschaftlichen Organisationen, politischen Parteien und in der Familie schwinden, besitzt der Sport immer noch eine einigende Kraft. Ende 2019 verzeichnete der BLSV den höchsten Mitgliederstand seiner Geschichte: Zwei Drittel der Bevölkerung sind sportlich aktiv, ein Drittel davon im Verein. Und die Zahlen werden weiter steigen, glaubt Ammon, was an der wirtschaftlichen Prosperität Bayerns liege: "Bayern ist ein Zuwanderungsland." Dennoch: Die Gesellschaft wandelt sich. Statt Teamsport nach dem klassischen Schema Dienstag/Donnerstag Training und am Wochenende ein Spiel liegen Klettern oder Tanzen im Trend. Oder Gesundheitssport: "Prävention ist besser als Rehabilitation", sagt Ammon, ein Satz, wie er in jeder kassenärztlichen Praxis hängen könnte. Neben dem sozialen Strukturwandel werde sich der Klimawandel auswirken, Stichwort Wintersport. "Anpassungsdruck gibt es überall. Auch der Sport muss diese Veränderungen aufnehmen." Integration, Inklusion, Gleichstellung und Gewaltprävention gehören heute ebenso selbstverständlich zum BLSV-Alltag wie die Lizenzierung von Übungsleitern oder der Sportstättenbau.

Als Monopolverband ist der BLSV Teil des politischen Prozesses. Wie viel Macht er hat? "Macht ist ja zunächst mal nichts Negatives", sagt Ammon. Er meint: Gestaltungsmacht. "Wir haben rein gleichgeschlechtliche Sportvereine, wir haben jüdische Vereine, Vereine für Kinder und Jugendliche, solche für Senioren, reine Rehavereine, Gehörlosensportvereine und, und, und." In dieser Diversität sei die Bevölkerung Bayerns "heterogenst" repräsentiert. Bayern sei ein kultureller "Schmelztiegel", der Sport "das New York Bayerns".

Wer an den gesellschaftspolitischen Schalthebeln sitzt, muss aber auch Rechenschaft ablegen. Wie unabhängig ist der BLSV gegenüber den Interessen Dritter? Wie sanktioniert er Fehlverhalten? Bei viereinhalb Millionen Mitgliedern ist nicht zuletzt Datenschutz ein sensibler Bereich. Good Governance und Compliance seien auch im Sport Themen, sagt Ammon. Als einziger Landessportverband beziehe der BLSV "keine institutionellen Zuschüsse"; er finanziert sich aus Mitgliedsbeiträgen und dem Betrieb dreier Sportcamps; er untersteht dem Innenministerium und dem Obersten Rechnungshof als Kontrollinstanzen, intern wachen der Aufsichtsrat und der Wirtschaftsrat; er rechnet nach Handelsrecht ab und unterzieht sich einer Jahresabschlussprüfung; zudem gibt es Revisoren für jeden Bezirk. "Als Verein müssten wir das nicht tun", sagt der Finanzexperte Ammon. "Aber es ist richtig so." Die Fußball-WM 2006 - das "Sommermärchen", das von schwarzen Kanälen durchzogen war wie ein gut marmoriertes Steak von Fettadern - habe "erhebliche Nachwirkungen" gezeitigt. Die Penibilität scheint sich zu lohnen: In den zwölf Jahren, die Ammon dem Präsidium angehört, habe es keinen Fall gegeben, "der das öffentliche Interesse erregt hätte". Beim Thema Gewaltprävention zeigt sich indes, wie begrenzt die Macht des Verbandes bisweilen ist.

Vor wenigen Wochen wurde ein Fall in Ammons fränkischer Heimat bekannt, wo der Jugendleiter eines Yachtclubs Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg sexuell missbraucht haben soll. "Wir können nur Hilfestellung geben", sagt Ammon: Wie erkennt man Missbrauch? An wen kann man sich wenden? "Wir wollen sensibilisieren, Verständnis schaffen. Aber wir können kein Seelsorgetelefon sein." Vorsorge beginne bei der Ausbildung der Übungsleiter. Für alle 90 000 die Hand ins Feuer legen könnten sie nicht.

Den olympischen Gedanken zu bewahren, sei "definitiv" Aufgabe des BLSV, findet Ammon. Andererseits zeige der Blick in die Historie, dass es schon im alten Olympia "nicht immer fair zuging". Dem konservatorischen Gedanken wohnt ein pädagogischer inne. Man müsse die Idee einer sportlichen Auseinandersetzung möglichst früh "im schulischen Bereich implementieren", fordert er. Deswegen verbindet er mit den European Championships höchste Hoffnungen. Wenn Athletinnen und Athleten 2022 im Olympiapark in neun Sportarten ihre Europameister ermitteln, sei dies eine großartige Gelegenheit, "dass Kinder und Jugendliche erleben dürfen, wie Sportler fair um den Sieg kämpfen" - und das in nachhaltiger Weise auf den (sanierten) Anlagen von 1972. "Das wäre wunderbar, solche Herausforderungen lieben wir." Ammons Ideal von Sport als Schutzraum für ein faires Miteinander kommt nicht von ungefähr. Wer von Westen über den Mittleren Ring ins Münchner Zentrum steuert, fährt auf das "Haus des Sports" zu, unter dessen Dach die meisten der 56 im BLSV organisierten Fachverbände ihren Sitz haben. Wie eine vorgelagerte Trutzburg macht sich der Bau vor dem Olympiapark breit, diesem "wunderschönen" Gelände - etwa in gleicher Distanz zwischen dem Olympiastadion, wo die "heiteren Spiele" von 1972 begannen, und der Connollystraße, wo die Heiterkeit am 5. September ihr blutiges Ende fand. Mehr Symbolik geht nicht.

Die European Championships sind auch eine Chance, das ramponierte Image von sportlichen Großveranstaltungen aufzupolieren. Menschen in freiheitlich-demokratischen Ländern seien nicht mehr bereit, alles unreflektiert zu beklatschen. "Spiele in die letzten Winkel der Welt zu vergeben, nur weil sie dort noch nicht waren, ist keine sachlogische Begründung. Wir werden umgekehrt auch keine Wüste in München haben, nur weil hier noch nie eine war", sagt Ammon. Von Winterspielen in München, die zu erheblichen Eingriffen in die alpenländische Natur geführt hätten, habe sich "die Bevölkerung völlig zu Recht abgewandt". Hat der Sport die Menschen hypersensibilisiert? Fressen die Kinder der Demokratisierung den Sport?

"Sport ist Treiber und Getriebener zugleich", sagt Ammon, er stößt Veränderungen an und muss sich selbst verändern. Das fange bei Spielordnungen an und reiche über ökologische bis zu moralischen Aspekten. Und wie in der Politik wachse das Vertrauen in Organisationen wie das Internationale Olympische Komitee, den Fußball-Weltverband Fifa oder auch den BLSV immer und "untrennbar" mit den handelnden Personen. Er sagt es nicht. Aber er sieht sich nicht in einer Reihe mit Thomas Bach und Gianni Infantino.

Die Herausforderungen der Zukunft sind mannigfaltig. "Wir wollen die Vereine dabei unterstützen, dass sie Sport bestmöglich anbieten können." Zum Selbstverständnis des BLSV gehöre aber auch, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Studien besagten etwa, dass die Zahl adipöser Kinder einen Höchststand erreicht habe. "Das können weder Politik noch Schule alleine lösen, das ist ein gesellschaftliches Thema", sagt Ammon. Der BLSV will auch dazu gerne seinen Beitrag leisten. Wo er den Verband in 25 Jahren sieht? Puh. "Vor 25 Jahren hat sich auch keiner vorstellen können, dass das Internet diese Bedeutung bekommt, dass es mal Smartphones gibt." Alles ist möglich. Auch erstmals eine Frau an der Spitze des Verbandes? Laut Geschäftsführer Kern sind 60 Prozent der 250 BLSV-Angestellten weiblich. Ammon lächelt. "Ich glaube, dass der BLSV jetzt schon reif ist für eine Frau an der Spitze. Das ist keine Frage des Geschlechts, sondern des Gestaltungswillens." So ein bisschen will er jetzt aber erst mal selbst gestalten. Er ist ja erst seit 2018 im Amt, seine Zeit soll noch kommen. Spätestens, wenn Corona gebannt ist wie die Abstiegsgefahr beim Club.

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Quelle:
SZ vom 18.07.2020
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