Schiedsrichter im Rollstuhl:Inklusion auf dem Rasen

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Wer nicht fair spielt, bekommt die Gelbe Karte. Rudi Dantinger ist der erste Schiedsrichter im Rollstuhl, der nichtbehinderte Jugendteams pfeift. (Foto: Stephan Rumpf)
  • Rudi Dantinger ist ein ungewöhnlicher Fußball-Schiedsrichter: Er sitzt im Rollstuhl.
  • Beim FC Wacker München arbeitet er außerdem als Manager und Assistent des Präsidenten.
  • Er hat sich den Verein bewusst ausgesucht. Die Integrationsarbeit hat ihn gereizt; bei Wacker kicken um die 50 Nationen, von den Bambinis bis zur Kreisklasse.

Von Sabine Buchwald, München

An dem Samstag, an dem Rudi Dantinger sein erstes Spiel gepfiffen hat, war es kalt. Saukalt. Arschkalt. Das haben manche am Spielfeldrand so gesagt, sich die Hände gerieben und ihr Kinn in den Jackenkragen geschoben. Beim Fußball darf man so reden, daran stört sich keiner. Rudi Dantinger hat das nicht gesagt, obwohl er lediglich im Trikot auf dem Spielfeld vom FC Wacker war. Ihn hat es nicht gefroren - er hat eine Sitzheizung in seinem Rollstuhl. Aufgeregt war er auch ein bisschen, das wärmt von innen. Er war so nervös wie andere, die nach drei Wochen Schiedsrichterausbildung beim Deutschen Fußballbund (DFB) ihre Prüfung geschafft haben und das erste Mal als Schiri auf dem Rasen stehen. Aber Dantinger steht nicht auf dem Rasen, er fährt.

Ein Arm und seine Beine sind gelähmt. Dantinger, 47, ist Tetraspastiker von Geburt an. Er bekommt schlecht Luft, weshalb er leise und manchmal undeutlich spricht. Wenn er jemanden anruft, der ihn nicht kennt, sagt er gleich: "Legen Sie nicht auf, ich bin Spastiker." Ein elektrischer Rollstuhl, den Dantinger mit einer Hand bedienen kann, macht ihn mobil. Er kommt den Spielern hinterher. Dem Ball auszuweichen, ist nicht ganz so einfach, er hat auch als Trainer schon so manchen Schuss abgekriegt. Als Dantinger das erzählt, gluckst er vor Lachen. Fröhlich, hinreißend mitreißend. Er liebt Fußball und ist als Kind mit seiner Mutter oft bei den Sechzgern im Stadion gewesen. Er selbst hat Hockey gespielt, wurde 1987 zum weltbesten Torwart im Rollstuhl-Hockey gekürt. Nach der Schule in der Pfennigparade, dem Realschulabschluss, einer halben Lehre als Bürokaufmann, wurde der Fußball sein Lebensinhalt.

Dantinger pfeift nicht - er hupt

An jenem Samstag im April hat Dantinger ein Spiel zwischen zwei Sendlinger Jungenmannschaften gepfiffen. Quirlige, gesunde Grundschüler. Das heißt gepfiffen hat er nicht wirklich, er hat gehupt mit seiner rechten Hand. Diese Hupe gibt ein Pfeifgeräusch von sich. Damit die Schiedsrichterentscheidung dann auch richtig ankommt bei den Fußballern, pfeift ein Begleiter jedes Hupzeichen nach. Dantinger darf als Schiedsrichter in allen Altersstufen der Basisklassen den Ton angeben. Theoretisch könnte er es - wenn die Altersgrenze fällt - bis in die Bundesliga schaffen, so nach sieben, acht Praxisjahren.

Ein paar Tage später trifft man sich im Vereinsheim von Wacker, im Blaustern. Die meisten Tische sind belegt, Männer in Trikotjacken sitzen vor Halblitergläsern. Spezi, Apfelschorle, Bier. Einige essen Schnitzel. Steht einer auf, kratzt sein Holzstuhl auf dem Fließenboden. Funktionale Brauereimöbeleinrichtung in Brauntönen. An einem Tisch, gleich bei der Tür, trifft man Dantinger in einer Runde. Ein neuer Trainer stellt sich an diesem Abend vor. Jeder wird von allen mit Handschlag begrüßt. Vorname, Servus reihum. Eine zierliche Frau sitzt geduldig dabei. Ihr kleiner Hund schnüffelt an den Hosenbeinen. Jedes Mal, wenn er einen schnappigen Beller loslässt, zuckt Dantinger zusammen. Er kennt den Hund, und der Hund kennt ihn. Er gehört der Assistentin, die Dantinger begleitet, bis sie von einem anderen seiner fünf Assistenten abgelöst wird. 23 Stunden dauert eine Schicht. Die Hundefrau wird ihn kurz vor Mitternacht nach Hause bringen, mit einer der letzten U-Bahnen.

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Protokoll: Lars Langenau

Ein Auto, in dem sie Dantinger fahren könnte, besitzt er nicht mehr, seitdem sein altes kaputt gegangen ist. Die Regierung von Oberbayern habe ihm die Finanzierung nicht genehmigt, sagt Dantinger. "Weil ich keine feste Arbeitsstelle habe." Er arbeitet für den FC Wacker als Manager, Fußballkoordinator, als Stütze des Wacker-Präsidenten Marcus Steer, und jetzt auch als Schiedsrichter. Aber Vereinsarbeit gilt nicht bei der Regierung.

Dantinger fährt oft zwischen Hadern, wo er wohnt, Sendling und dem Bayerischen Fußballverband in der Briennerstraße hin und her. Er kümmert sich um die Pässe der Spieler, ohne die sie nicht kicken dürften, und um viele andere Formalitäten, die bei einem Verein anfallen, der Migration lebt. Sportgerichtsgeschichten. "Diskriminierende Übergriffe", sagt Steer und meint Beleidigungen wie "du Neger" oder "du Affe". Beim FC Wacker, 1903 gegründet, kicken um die 50 Nationen, von den Bambinis bis zur Kreisklasse.

"Ein Auto wäre toll", sagt Dantinger. Dann gäbe es diese erniedrigenden Malheurs mit kaputten Aufzügen nicht so oft. Wie neulich, als er auf dem Weg zu einem Fußballspiel eine Stunde lang auf einem Bahnsteig ausharren musste. Er geht auch gerne aus, in die Milchbar zum Beispiel, Achtzigerjahre-Musik hören.

"Wenn mich einer beleidigt hat von einer anderen Mannschaft, haben meine Jungs noch mehr Gas gegeben"

Zu Wacker kam Dantinger vor mehr als drei Jahren. Er hat bei 1860, in Deisenhofen, in Pullach und kurz in Forstenried junge Spieler betreut oder trainiert. "Ich habe meine Kabinenansprache immer selber gehalten", sagt Dantinger. Er ist stolz darauf, auch weil es manchmal nicht einfach war, in die Kabinen zu kommen. 120 Kilo wiegt Dantingers Rollstuhl, er selbst noch mal 100. Auch um ins Vorstandsbüros von Wacker zu kommen, braucht es starke Arme.

Dantinger schwärmt von früher: "Meine Jungs waren so cool. Wenn mich einer beleidigt hat von einer anderen Mannschaft, haben sie noch mehr Gas gegeben." Aber auch bei Wacker stehen alle hinter ihm. Sie sehen in ihm "den Rudi" und nicht den Mann im Rollstuhl. Er hat sich Wacker bewusst ausgesucht. Die Integrationsarbeit hat ihn gereizt, und die Tradition des Vereins. Steer, der bis zu 80 Stunden die Woche hier arbeitet, zierte sich, Dantinger zu treffen. Er wollte nicht noch ein "Sorgenkind" und war dann "total begeistert". "Er managt meinen Terminkalender, meine 4600 Telefonnummern und hat damit einen Riesenanteil an der Flüchtlingshilfe in München."

© SZ vom 27.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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