Zwangsversteigerungen:Ein Haus per Zuruf

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Illustration: Dalila Keller (Foto: Dalila Keller)

Wer eine Immobilie ersteigern will, muss mehr wissen als nur sein eigenes finanzielles Limit. Denn es gelten besondere Spielregeln.

Von Stephanie Schmidt

Diese schrillen Piepstöne kommen einem bekannt vor. Sie sind schon am Eingang des Backsteingebäudes zu hören. Eine knappe halbe Stunde vor Beginn der Versteigerung, die auf neun Uhr angesetzt ist, füllt sich das Foyer des Münchner Amtsgerichts in der Infanteriestraße 5 mit Leben. Bevor die Teilnehmer des Termins Sitzungssaal Nummer 202 betreten dürfen, werden sie von Mitarbeitern des Amtsgerichts mit Handdetektoren abgetastet. Auch die Taschen werden durchforstet. "Hier wird man ja genauer unter die Lupe genommen als im Münchner Flughafen", sagt eine junge Frau, die gerade den Inhalt ihres Kosmetiktäschchens wieder sortiert.

Ein Paar, so schick gekleidet, als besuche es eine Vernissage, passiert die Sicherheitskontrolle. Eine schlanke Blondine im Kostüm, schwarze Pumps, an ihrer Seite ein Mann mit schulterlangen Haaren im grauen Anzug. Sie haben etwas Wichtiges vor, man sieht es. Manfred Kerstan ist heute mit dem Ziel gekommen, ein Haus, Baujahr 1969, mit circa 135 Quadratmetern Wohnfläche in der Kreisstadt Fürstenfeldbruck bei München zu ersteigern. Der Verkehrswert beträgt 341 000 Euro. Diese Summe - sie besagt, wie viel Geld ein Verkäufer auf dem freien Markt voraussichtlich für das Domizil erhalten dürfte - hat ein von der Industrie- und Handelskammer öffentlich bestellter Sachverständiger ermittelt.

Mondpreise auf dem Immobilienmarkt

Sein 38-seitiges Gutachten beschreibt die Lage und den Zustand des Einfamilienhauses detailliert, es enthält auch Berechnungen und Tabellen, Grundrisse, Umgebungspläne und Fotos der Innenräume. Letztere sind für Interessenten wichtig, denn sie können ein Versteigerungsobjekt vor dem Termin nur von außen besichtigen, in den seltensten Fällen von innen.

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Kerstan ist schon seit eineinhalb Jahren auf der Suche nach einer Immobilie, "das ist auch kein Wunder bei diesen Mondpreisen." Er möchte das Haus für sich und seine Frau kaufen. "Wir bekommen ein Kind und brauchen mehr Platz. Fürstenfeldbruck gefällt uns gut, wir wohnen schon da und sind integriert", sagt er. Seine Frau ist heute nicht dabei, die elegante Begleiterin an seiner Seite ist seine Tante. "Sie kennt sich aus, sie hat vor ein paar Jahren ein Haus in Augsburg ersteigert."

Die drei haben frühzeitig das im Internet veröffentlichte Gutachten studiert und das Gebäude so gut wie möglich besichtigt. Da Kerstan einen der Nachbarn kennt, kam er an zusätzliche Informationen über das Bauwerk, das vor einem knappen Jahr beschlagnahmt wurde. "Tja, das Dach, die Heizung ... Man muss mit einem zusätzlichen Renovierungsaufwand von 80 000 Euro rechnen", schätzt Kerstan.

Genaue Lektüre des Gutachtens

Inzwischen haben sich die Türen des Sitzungssaals geöffnet. An die 40 Menschen - nur ein paar von ihnen werden mitbieten, die meisten sind Zuschauer - nehmen auf den schwarzen Ledersitzen Platz, die hufeisenförmig um ein Pult angeordnet sind. An ihm sitzt die Rechtspflegerin, die die Versammlung leitet. Bevor man sein erstes Gebot abgeben darf, muss man dem Vorsitzenden seinen Ausweis zeigen und eine sogenannte Bietsicherheit hinterlegen. Sie beträgt zehn Prozent des Verkehrswerts, in diesem Fall also 34 100 Euro.

Bevor Immobilieneigentümer in spe zu bieten beginnen, muss sie der Rechtspfleger präzise über die Einträge im Grundbuch informieren. Im Beispielfall ist eine Grundschuld von 212 000 Euro relevant. "Sie überlegen sich, was Sie insgesamt zahlen wollen. Davon ziehen Sie die Grundschuld von 212 000 Euro ab, der Rest ist das, was Sie mir als Bargebot nennen", belehrt die Rechtspflegerin die Anwesenden.

Immer muss der Rechtspfleger auch das sogenannte geringste Gebot nennen. Es setzt sich aus verschiedenen Posten zusammen, zu denen bestimmte Rechte und Belastungen sowie die Verfahrenskosten gehören. Eine Grundschuld oder Hypothek kann bewirken, dass das geringste Gebot vergleichsweise hoch ausfällt - in diesem Fall veranschlagt die Rechtspflegerin stolze 316 897 Euro. Für weniger Geld sei das Haus nicht zu ersteigern.

Enttäuschung in den Augen

Das ist starker Tobak für Manfred Kerstan und seine Tante. Eine Grundschuld in der genannten Höhe haben sie nicht einkalkuliert, im Gutachten ist keine Rede davon. Sie haben sich ein Limit gesetzt, was sie ausgeben wollen. 316 897 Euro minus 212 000 Euro, da kommt ein Mindest-Bargebot von knapp 105 000 Euro raus. Definitiv zu viel, befinden Manfred Kerstan und seine Tante. Enttäuscht sehen sie einander in die Augen. Gleich geht es los, aber sie werden nicht mitbieten.

"Es ist 9.12 Uhr. Ich eröffne jetzt die mindestens 30-minütige Bietzeit", verkündet die Rechtspflegerin. Erst Stille. Dann Gemurmel. Minutenlang geschieht nichts. Dann geben einige Männer und zwei Paare peu à peu ihre Bargebote ab. So manchen hat die Neuigkeit mit der Grundschuld also nicht abgeschreckt. Zwischenzeitlich bieten eines der Paare und ein muskulöser Mann mit türkisfarbenem T-Shirt abwechselnd von ihren Plätzen aus. 119 000 Euro. 121 000. Dann 122 000. Oft geht es in Sprüngen von 1000 oder 2000 Euro aufwärts. Aber jetzt: 125 000 Euro. Das zweite Paar schaltet sich ein, eine junge Frau und ihr Mann. "228 000", ruft die junge Frau, und dann: "Ach nein, 128 000". Sie hat sich vertan, die Rechtspflegerin korrigiert die Zahl, einige Zuschauer grinsen. "Das Haus ist jetzt echt überteuert", flüstert Manfred Kerstan. "Da kann man auch zum Bauträger gehen und einen Neubau kaufen. Zumindest außerhalb von München."

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Aber die Versteigerung ist noch nicht zu Ende. Die Rechtspflegerin sagt "zum Dritten", da kommt plötzlich noch ein Gebot. Das ist legitim und geht ein paar Male so. Der Muskelmann ist noch bis zum Schluss mit von der Partie. 137 000 Euro, basta. Das ist sein letztes Gebot. Das junge Paar übertrumpft ihn mit 138 000 Euro, damit hat es das Rennen gemacht. Ein Schnäppchen? Wohl kaum. Zu Grundschuld plus Bargebot kommt ja noch einiges hinzu. Zinsen, die Grundsteuer und die Gebühren für den Zuschlag. Aber die junge Frau lächelt. Ihr Partner mit Pferdeschwanz und Nickelbrille blickt verdutzt drein - er hat wohl noch nicht ganz realisiert, dass er gerade ein Haus ersteigert hat.

Immerhin - das Haus steht leer. Inzwischen seien die Bewohner ausgezogen, hat die Rechtspflegerin zu Beginn der Versteigerung mitgeteilt. Ein Vorteil, denn es gibt Fälle, in denen man die Immobilie zwangsräumen lassen muss, wenn sich die ehemaligen Besitzer weigern, auszuziehen. Auf den damit verbundenen Kosten, die sich auf mehrere Tausend Euro belaufen können, bleibt in der Regel der neue Eigentümer sitzen. Ein anderes Risiko bei Zwangsversteigerungen: Man hat sich bestens für die Sitzung präpariert, doch sie wird ein paar Tage vor dem Termin abgeblasen, weil sich die beteiligten Parteien doch noch geeinigt haben. Das passiert gar nicht so selten.

Erst üben, dann bieten

Szenenwechsel. Derselbe Ort, anderer Tag, andere Zeit. Diesmal kommen nur 20 Teilnehmer - sie interessieren sich für ein Anfang der Siebzigerjahre gebautes Ein-Zimmer-Appartement in München-Laim mit knapp 33 Quadratmetern Wohnfläche, Verkehrswert 120 000 Euro. Die Erdgeschoss-Wohnung ist vermietet. Deshalb fragt eine Frau im Sommerkleid mit buntem Retro-Muster: "Könnte man da eine Eigenbedarfskündigung machen?" Sie heißt Georgine Peter, sie und ihr Mann sind als Zuschauer im Saal. "Sie kriegen von mir einen vollstreckbaren Titel", sagt die Rechtspflegerin in korrektem Juristendeutsch. "Aber Sie müssen dem Bewohner eine angemessene Frist für den Auszug setzen." Heute wollen Georgine und Hermann Peter üben, aber nicht mitbieten. Noch nicht. "Das Gutachten muss man richtig durchkauen, das ist wichtig", finden sie.

Kurz vor Beginn der Versteigerung flüstert Georgine Peter: "Ich bin jetzt schon ganz aufgeregt. Da liegt so ein Knistern in der Luft." Und es wird wirklich spannend. Den Einstieg wagt - mit 84 000 Euro - ein Mann mit grauem Wuschelkopf. Danach formen sich mehrere Konstellationen, bei denen im Duett oder Terzett geboten wird. "Jetzt muss ich aber aufhören", sagt ein anderer Mann, nachdem er sein Gebot von 122 000 Euro genannt hat. Aber er macht noch eine Weile weiter.

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Was zum Schluss geschieht, erinnert an Szenen aus dem Tierreich: Wenn etwa ein Bussard konzentriert über einem Feld kreist und sich im richtigen Augenblick auf seine Beute stürzt. Ein Paar aus den hinteren Reihen, das sich lange Zeit zurückgehalten hat, offeriert 129 000 Euro - und erhält den Zuschlag.

Eine Wohnung für den Sohn

Nach dem Termin, der nur eine knappe Stunde gedauert hat, verraten Georgine und Hermann Peter, dass sie schon eine Immobilie im Auge haben. Wenn diese in ein paar Wochen unter den Hammer kommt, wollen sie selbst mitbieten. "Wir suchen eine Wohnung für unseren Sohn. Es ist wahnsinnig schwierig, in der Stadt was zu finden. Doch er möchte halt unbedingt nach München, er ist 35 Jahre alt und Single", erzählt Georgine Peter. Ihre soeben gewonnene Erkenntnis: "Man muss aufpassen. Eine Versteigerung hat viel von einem Spiel, aber es ist eben doch kein Spiel. Man darf sich nicht zu sehr mitreißen lassen."

Und welches Fazit ziehen Manfred Kerstan und seine Tante nach der Versteigerung? Nur ein paar Sekunden nach Ende der Sitzung verlassen sie eilig den Saal. Sie finden fast kein gutes Haar mehr an dem versteigerten Objekt: "Das ist kein richtiges Haus. In Wahrheit ist das nur ein Reiheneckhaus. Und es hat keine Garage, nicht mal einen richtigen Garten", sagt Manfred Kerstan. Er lächelt aber schon wieder, wirkt sogar erleichtert. Seine Tante lächelt auch. Sie stärkt ihrem Neffen den Rücken: "Man muss Geduld bei diesen Dingen haben. Und es kommt immer was Besseres nach."

© SZ vom 07.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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