Sozialpolitik:Die Ärmsten der Armen

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Auf den Knien: Viele erzählen, sie hätten vor der Ankunft in München niemals gebettelt, doch die Not habe sie dann doch dazu getrieben. (Foto: Robert Haas)

Seit zehn Jahren unterstützt die Stadt das Caritas-Projekt "Bildung statt Betteln"

Von Thomas Anlauf

Ramona Sisu und Nedialko Kalinov kennen ihre Kunden ziemlich gut. Wenn die beiden Streetworker der Caritas durchs Bahnhofsviertel und über die Sonnenstraße zum Sendlinger-Tor-Platz laufen oder am Stachus und im Tal vorbeischauen, treffen sie regelmäßig auf alte Bekannte: Menschen, die in München meist auf der Straße leben und verzweifelt nach Arbeit suchen oder um ein paar Cent betteln. "Diese Menschen kommen zu uns ins Büro, und wir gehen zu denen, wo sie tatsächlich sind", so umschreiben die beiden Sozialpädagogen die Arbeit mit den Ärmsten der Armen in München. Kalinov und Sisu sind die Gesichter einer Erfolgsgeschichte: Seit zehn Jahren unterstützt die Stadt das Caritas-Projekt "Bildung statt Betteln".

Begonnen hat die Geschichte mit einer kleinen Beobachtung. Der Münchner Sozialpädagoge Alexander Thal bemerkte im Jahr 2007, dass bei der von der Caritas und der Münchner Tafel organisierten Essensausgabe an der Landwehrstraße plötzlich neue Gesichter auftauchten. Auch ältere Frauen aus Rumänien und Bulgarien stellten sich nun bei der Essensausgabe an und baten um Lebensmittel. Sie konnten kein Deutsch, doch Thal, der nun seit Jahren Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrates ist, wollte damals wissen, wo die Menschen plötzlich hergekommen waren, die regelmäßig zur Essensausgabe kamen. Nach langer Suche fand er einen Studenten, der bulgarisch sprach und für ihn übersetzte: Nedialko Kalinov. Für Thal war nun klar, dass es sich bei den Menschen "offensichtlich um Münchnerinnen und Münchner handelt, die dringend Hilfe brauchten", sagt Thal heute.

Und Thal half. Er gilt als "Vater des Projekts Bildung statt Betteln", sagte Kalinov bei einer kleinen Jubiläumsfeier zum zehnjährigen Bestehen des Hilfsangebots, das schließlich 2010 starten konnte. Zunächst waren die Zuschüsse befristet, die Haltung bei vielen Verantwortlichen angesichts der Menschen aus Südosteuropa, die seit 2007 verstärkt nach München kamen, war skeptisch. Das Kreisverwaltungsreferat ging in den Anfangsjahren häufig rigoros gegen vermeintliche Bettelbanden vor. Doch Thal und die Mitstreiter von der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt konnten belegen, dass es sich um Menschen handelt, die aus purer persönlicher Not in München ihr Glück suchen. Längst gibt es ein konkretes Bild, wer die Armen auf den Straßen sind: Die meisten bettelnden Menschen stammen aus Rumänien und gehören zu der ethnischen und in der Heimat oftmals unterdrückten Minderheit der Roma. Auch aus Bulgarien kommen viele Roma, die im Bahnhofsviertel Arbeit suchen.

Die Streetworker Kalinov und Sisu haben bei den Besuchen auf der Straße erfahren, dass die betroffenen Menschen in ihrer Heimat Sozialhilfe in Höhe von etwa gerade mal 30 Euro pro Monat oder eine kleine Rente erhalten. Außer gelegentlich eine Tageslohnarbeit fänden sie dort "keine dauerhafte und bezahlte Beschäftigung, womit sie für ihren eigenen Lebensunterhalt annähernd ausreichend verdienen könnten". Die Menschen hätten erzählt, dass sie vor ihrer Ankunft in München niemals gebettelt hätten, doch die Not habe sie dazu getrieben, in der Ferne betteln zu müssen. Oft bleiben sie ein paar Monate, um Kosten für Bücher und Schulmaterial für ihre Kinder zu Hause zusammenzubetteln oder für Medizin von Familienangehörigen, die krank sind.

Das Programm "Bildung statt Betteln" der Caritas hat bereits Hunderten Menschen konkret geholfen, in München Sprachkurse zu belegen und so bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die Sozialarbeiter konnten zudem letztlich auch die Stadtverwaltung und den Stadtrat überzeugen, dass genau für solche Menschen, die kein Anrecht auf soziale Hilfe in München haben, der Kälteschutz eingerichtet wurde. Und dieser gilt, wie das Projekt selbst, bis heute deutschlandweit als einzigartig.

© SZ vom 12.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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