Süddeutsche Zeitung

Solln-Schläger Sebastian L.:Absturz einer verlorenen Seele

Viele Betreuer haben versucht, dem mutmaßlichen Schläger Sebastian L. zu helfen. Am Ende konnte keiner die Tat von Solln verhindern.

Bernd Kastner

Im April ist Sebastian 17 geworden. Er hat gefeiert, aber bald war sein Geburtstag keine Feier mehr, sondern ein großes Besäufnis, drei Tage lang. Das hätte eine Eskapade sein können, wie es beim Erwachsenwerden hin und wieder passiert, es war aber symptomatisch für Sebastian L. Sein junges Leben war da längst ins Rutschen geraten, es kannte seit Jahren nur eine Richtung.

Sebastian L. ist einer der beiden mutmaßlichen Täter vom Bahnhof Solln, einer der beiden, die Dominik Brunner totgetreten haben sollen, jenen Mann, der sich schützend vor vier Kinder gestellt hat. Seither ist ein ganzes Land fassungslos, und der Boulevard nennt Sebastian und seinen Freund Markus Sch. "Killer-Pack".

Helmut Berger, der eines der drei Heime leitet, in denen Sebastian zuletzt gewohnt hat, sagt: "Sebastian ist eine verlorene Seele". In den Monaten vor der Tat haben sie versucht, ihn einzufangen, buchstäblich, auch die Polizei hat mitgeholfen, aber Sebastian hat sich entwunden. Einer, der sich einige Wochen um ihn gekümmert hat, sagt, er könne es nicht fassen. Ausgerechnet Sebastian. Nie hätte er das gedacht.

Bislang sind nur Rudimente aus dem Leben des Sebastian L. bekannt, sie stammen aus den Erfahrungen von Behörden und Betreuern mit Sebastian, aus den Erkenntnissen von Ärzten und dem, wie sich Sebastian selbst sieht. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass es das Leben von Anbeginn an nicht gut gemeint hat mit ihm.

Er kommt 1992 viel zu früh auf die Welt, er muss in den Brutkasten. Wenig später operieren Ärzte den Säugling am Darm, die Jahre danach quälen das Kind. Bauchschmerzen, irgendwann stellt man eine tückische Darmkrankheit fest.

Er gilt als hoffnungsloser Fall

Auch die Leber ist schon im Kindesalter krank, Sebastian hat Probleme mit der Ernährung, ist anfällig für Infekte, bleibt in der Entwicklung zurück. Seine Beschwerden benutzte er später, um sich in der Schule krank zu melden.

Er besucht Schulen in der Innenstadt, aber er kommt nicht zurecht, schwänzt, macht keine Hausaufgaben, fällt mehrfach durch, irgendwann gilt er den Lehrern als hoffnungsloser Fall. Nach neun Jahren will ihn die zweite Hauptschule nicht mehr haben, nur weil der Vater so hartnäckig ist, nimmt ihn eine Schule in Haidhausen, doch von dort fliegt er, ohne Abschluss. Später soll er Einzelunterricht bekommen, doch er will nicht.

Sein Zuhause, so scheint es, war kein Ort der Geborgenheit. Ob er tatsächlich unter Gewalt leiden musste, wie es aus Betreuerkreisen hieß, werden die Ermittlungen zeigen. Nach SZ-Informationen gerät das Leben der Eltern schon durcheinander, als der Säugling aus der Klinik nach Hause kommt.

Immer öfter streiten sich Vater und Mutter, sie trennen sich, als Sebastian sechs ist. Er bleibt Einzelkind, wächst in der kleinen Wohnung der Mutter in der Stadt auf, hat aber regelmäßig Kontakt zum Vater. In die Schule kommt er ein Jahr später als vorgesehen, er besucht den Hort, geht jedoch bald nicht mehr hin. Als Teenager besucht er ein Antiaggressionstraining, nach dem zweiten Treffen bricht er ab. Dasselbe passiert mit einer Psychotherapie.

Mit 14 nimmt er Drogen

Mit 13 ist er zum ersten mal richtig betrunken, er trinkt daheim, klaut aus dem Keller des Nachbarn Alkohol. Mit 14 nimmt er erstmals Drogen, er probiert alles durch, Marihuana, Hasch, Kokain, Ecstasy, LSD, immer mehr.

Betreuer werden ihn später als "dauerstoned" erleben, als "dauerprall", so reden die jungen Leute untereinander, wenn einer nicht mehr runter kommt von den Drogen. Sebastian wirkt traurig, depressiv, alles deutet darauf hin, dass er psychisch schwer krank ist. Fachleute beurteilen ihn als dissozial, da ist er erst elf.

Unter Alkoholeinfluss, so beurteilt er sich selbst, neige er zu aggressivem Verhalten. Über die Jahre sammelt er mehrere Anzeigen, wegen Diebstählen etwa und räuberischer Erpressung. Die Betreuer, die Ämter wissen das, kennen Sebastians Selbsteinschätzung. Doch eine geschlossene Unterbringung wird offenbar nie ernsthaft erwogen, niemand stellt einen Antrag bei Gericht. Auch kommt der Junge nie in eine Klinik zum Drogenentzug.

Im November 2008 wird er im Jugendwerk Birkeneck in Hallbergmoos in Obhut genommen. So etwas passiert nur, wenn ein Kind in akuter Not ist. Bis dahin hat Sebastian beim Vater gelebt, und als der Vater stirbt, ganz plötzlich, ist es ein Schock für den Jungen, da ist er 16.

Seine Mutter hat er verloren, als er 14 war. Sie ist nicht gestorben, wurde aber schwer krank, lebt heute in einem Heim. Es gibt ein Foto von Sebastian, es stammt aus dieser Zeit, und es zeigt ihn inmitten seiner Konfirmandengruppe seiner Pfarrei.

Er hat sich eine Kapuze übergezogen, und wenn ihn heute alle Medien mit dieser Kapuze zeigen, wirkt er schon damals irgendwie bedrohlich. Vielleicht aber hat er unter dem Stück Stoff auch nur Schutz gesucht, wollte ein wenig verborgen sein, wenn der Fotograf blitzt.

Von November 2008 an ist er ganz in der Obhut von Einrichtungen, Pädagogen und Beamten. Eine Mitarbeiterin des Münchner Jugendamts übernimmt die Vormundschaft, sie muss, formal gesehen, die Eltern ersetzen. Sie wollen ihm helfen, die Helfer, in Birkeneck kommt er in eine heilpädagogische Gruppe, aber es klappt nicht.

"Ein Grenzgänger"

Sebastian läuft weg, immer wieder, tagelang mitunter. Einen "Grenzgänger" nennt ihn die Chefin des Stadtjugendamts, Maria Kurz-Adam. Einen, bei dem man schon Mühe hat, ihn in einem Heim zu halten.

Gute zwei Monate nur hält es Sebastian in Birkeneck aus. Sie wollen ihn intensiver betreuen dort, er aber will weg, nach München. Sie können ihn nicht halten. Als er jetzt, ein halbes Jahr später, wieder von Sebastian gehört hat, sagt Otto Schittler, der Birkeneck-Chef, sei er erschrocken. Und wie wohl alle, die dem Jungen helfen wollten, hat er die Akten durchgeblättert, die bange Frage im Kopf, ob sie etwas anders hätten machen müssen. Nein, sagt Schittler, er könne keinen Fehler entdecken.

Im Februar, als der Junge wieder einmal als vermisst galt, greift ihn die Polizei auf und bringt ihn zum Kolumbusplatz, in die Jugendpension, die "Jup". "Polizeilich zugeführt" heißt das dann. In der Jup leben gut 20 Jugendliche, drei Monate dürfen sie maximal bleiben, um sich zu fangen, dann sollen sie in die nächste Einrichtung, für länger, oder zurück zu den Eltern. Die Jup ist eines jener Häuser, die nur dann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten, wenn es zur Katastrophe gekommen ist. Die jungen Menschen, die gestärkt die Pension verlassen, schaffen es nicht in die Medien.

Für Berger, den Chef, war Sebastian nicht der erst Fall, der in einer Katastrophe endete. Hier lebten zwischenzeitlich auch die beiden U-Bahn-Schläger vom Arabellapark. Berger sagt, Sebastian sei längst nicht so aggressiv gewesen wie die beiden anderen. "Aber in einem sind sie sich gleich: Es sind Burschen, die nicht wissen, wie es weitergehen soll, die nicht einmal wissen, wo sie herkommen." Menschen ohne Wurzeln, ohne Selbstwertgefühl. Menschen, denen nichts gelingen mag, die sich in Drogen flüchten und Gewalt.

Bei Sebastian kommt hinzu, dass er den Tod seines Vaters nie bewältigt, er macht keine Trauerarbeit, er will es nicht, er kann es nicht, wie so vieles. Sein Intelligenzquotient ist stark unterdurchschnittlich, er fühlt sich als Loser. Auch in der Jup läuft er weg, kifft, trinkt, irgendwo in der Stadt.

Immer wieder geht er zu seiner Oma, Mitte siebzig ist die, sie ist die letzte verbliebene Angehörige. Wenn ein Pädagoge, den ihm das Jugendamt zusätzlich schickt, in der Jup klingelt, um mit ihm zu reden, will Sebastian oft nicht. Keine Zeit, sagt er dann.

Ab und an kommen Briefe von der Polizei, dann wissen die Betreuer, dass er wieder was ausgefressen hat. Sie reden mit ihm, auch über eine geschlossene Unterbringung, aber Sebastian lässt sich nicht beeindrucken. "Strafandrohung", sagt Berger, "hat keinen Effekt bei solchen Jugendlichen."

Der Versuch anzudocken

Und dann sei da noch das System der Jugendhilfe, das Gutes will, aber unter allerlei Zwängen stehe, vor allem finanziell: "Die Geduld, die nötig wäre, um mit solchen Jugendlichen zu arbeiten und ihnen langfristig zu helfen, können wir uns alle nicht leisten." Er klingt resigniert.

Sebastian findet eine Freundin, sie ist ihm "ganz, ganz wichtig", sagt einer, aber die Beziehung hält nicht, wie könnte sie auch in einem Klima, in dem Intrigen gedeihen unter den Jugendlichen.

Aber dennoch merken sie in der Jup, dass Sebastian ganz langsam "anzudocken" beginnt, so nennen sie das im Pädagogenjargon, wenn einer Vertrauen fasst zu seinen Betreuern, wenn er seltener abhaut. Die Erzieher schöpfen neue Hoffnung, die Tür zu Sebastian ist einen Spalt offen.

Doch dann ist seine Zeit am Nockherberg zu Ende, er ist sowieso schon einen Monat länger als üblich da. Das Amt schickt ihn nach Obersendling, wo der Suchthilfeverein Condrobs sein Easy-Contact-Haus betreibt, eine WG aus acht jungen Leuten, alle süchtig nach Alkohol oder Drogen oder beidem, alles sehr schwierige Fälle.

Auch dort ist Sebastian viele Nächte weg, jeden Tag rutscht er ein bisschen weiter die schiefe Bahn hinunter. In der WG lebt auch Christoph T., der an der Donnersbergerbrücke die beiden mutmaßlichen Täter angestachelt haben soll. Die Betreuer dort bemerken, dass Sebastian zu Aggressionen neigt, doch alle beteuern, dass sie nie mit einer solchen Eskalation gerechnet hätten, wie sie am 12. September geschah. Ob Sebastian an jenem Nachmittag unter Drogen stand, ist noch offen.

Helmut Berger, der Chef der Jup, erinnert sich, was er damals, als alle Welt über die U-Bahn-Schläger redete, über das Helfen gelesen hat: Man hat ihnen die Hand gereicht, sie haben sie nicht ergriffen, stand in der Zeitung. Ja, sagt er, das mag sein, aber die Hand zu reichen sei das falsche Mittel bei solchen Jugendlichen. Denn das bedeute Partnerschaft, Kooperation, aber wie, bitte schön, solle das funktionieren in diesen Fällen. "Wir müssen sie umarmen." Umarmen bedeute emotionale Zuneigung, bedeute Grenzen setzen.

Die Helfer sind gescheitert, alle. Niemandem ist es gelungen, Sebastian zu umarmen, ihn festzuhalten. Vielleicht ist das System aus Paragraphen und Hilfeplänen nicht gemacht für einen wie ihn.

Der Junge, den sie heute "Killer" nennen, ist durchgerutscht zwischen den Armen. Sebastian hat, so lautet der Vorwurf, einen Menschen brutal getötet. Doch auch sein eigenes Leben er damit zerstört. Sich selbst verloren hatte er schon lange zuvor.

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Quelle:
SZ vom 19.09.2009/sonn
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