Süddeutsche Zeitung

Großveranstaltungen:Software gegen Massenpanik

  • Angelika Kneidl simuliert am Computer die Evakuierung von Großveranstaltungen - und deren Schwachstellen.
  • Sie war Doktorandin am Lehrstuhl für Computergestützte Modellierung und Simulation der Technischen Universität München (TUM) und hat bereits entsprechende Software mitentwickelt.
  • 2014 machte sie aus ihrem Promotionsthema ein Start-up und gründete mit zwei Partnern das Unternehmen "accu:rate".

Von Christiane Funke

Es ist eine Schreckensvision: In einem Zelt auf der Wiesn bricht aufgrund eines Fettbrands in der Küche Feuer aus. Besucher versuchen panikartig, das Zelt zu verlassen. Von außen drängen andere Menschen, die noch nichts von dem Brand wissen, in das Zelt. So kommt es zu massiven Engpässen an Ein- und Ausgängen. Nun sind das Sicherheitspersonal und die Einsatzkräfte gefragt. Wie aber würden sie in einer solch brenzligen Situation richtig handeln?

Antworten auf diese Frage kann Angelika Kneidl, 34, liefern. Die Münchner Jungunternehmerin simuliert am Computer die Evakuierung von Großveranstaltungen. Bereits als Doktorandin am Lehrstuhl für Computergestützte Modellierung und Simulation der Technischen Universität München (TUM) hat die Informatikerin eine entsprechende Software mitentwickelt. 2014 machte sie aus ihrem Promotionsthema ein Start-up und gründete mit zwei Partnern das Unternehmen "accu:rate". Für ihre Ideen wurde die Jungunternehmerin schon mehrfach geehrt. Mit ihrem Kollegen Florian Sesser hat sie jetzt während der Computermesse Cebit in Hannover den Preis des "Gründerwettbewerbs-IKT Innovativ" entgegengenommen, mit dem das Bundeswirtschaftsministerium Unternehmensgründungen unterstützt.

To-do-Listen an den Wänden

"In Bayern sind wir das einzige Unternehmen dieser Art, deutschlandweit gibt es nur sehr wenige ähnliche Firmen", sagt Kneidl, die sich momentan mit ihren beiden Geschäftspartnern und einem Praktikanten ein kleines Büro in einem Betonriegel der Hochschule München an der Lothstraße teilt. Die Wände sind übersät mit gelben Haftzetteln. To-do-Listen. Schließlich standen im ersten Jahr nach der Gründung des Start-ups schon zahlreiche Projekte an. Eine Überprüfung des Sicherheitskonzepts der Wiesn war - noch - nicht dabei, aber für zwei kleinere Volksfestzelte ermittelte die Informatikerin mit ihrem Team bereits, wie man Fluchtwege optimiert.

"Jeder grüne Punkt steht für einen Menschen, hier sieht man, wie die Besucher zu den Ausgängen strömen", erläutert Kneidl die Bewegung der kleinen Tupfen auf dem Bildschirm ihres Laptops. Wie alt sind die Besucher? Mit welcher Geschwindigkeit bewegen sie sich? Wie viele Rollstuhlfahrer und wie viele Familien oder Gruppen sind zu erwarten? Und wie hoch könnte die Zahl der Betrunkenen sein, die nur eine eingeschränkte Wahrnehmung haben und nicht mehr so schnell laufen können? Es gibt viele Parameter, mit denen der Simulator gespeist werden muss, um Fluchtwege in einem Festzelt zu überprüfen.

Worin liegt der Vorteil von Simulationen? "Sie können Dinge aufdecken, die der Mensch gar nicht bedenkt. Und: Sie haben keine subjektive Wahrnehmung, wohingegen der Mensch manchmal einen Tunnelblick hat", antwortet Kneidl. Sie hat durch ihren Vater, einen IBM-Ingenieur, die Passion für Computer entdeckt. Schon ihr erstes Projekt war ein großer Erfolg. In ihrer Doktorarbeit an der TUM simulierte sie mit anderen Experten die Evakuierung des Fritz-Walter-Stadions auf dem Betzenberg in Kaiserslautern. Eine Herausforderung: Schließlich fasst die Fußball-Arena fast 50 000 Besucher. Welche Wege die Menschen im Notfall nehmen, wie viele in welche Richtung laufen und wo es Engpässe geben könnte, veranschaulichte Kneidl mit dem im Forscherteam entwickelten Computerprogramm und trug mit ihrer Arbeit dazu bei, Evakuierungspläne für die Region und einen Trainingssimulator für Rettungskräfte, Polizei und Feuerwehr zu schaffen.

Sicher, dynamisch, eloquent

Computertechnik, die Leben rettet. Und vermutlich Katastrophen wie die 2010 bei der Loveparade in Duisburg hätte verhindern können. "Allerdings hätte es jedem der gesunde Menschenverstand sagen können, dass es dort Probleme geben wird", sagt die Unternehmerin. Schon allein deshalb, weil der Eingang zur Loveparade auch der Ausgang gewesen sei und die Besucher durch einen engen Tunnel hätten laufen müssen.

Sicher in ihrem Urteil, selbstbewusst, eloquent, dynamisch und zielstrebig tritt Kneidl auf. Und erfüllt so das Klischee der Selfmade-Frau und Macherin. Und doch beschleichen sie gelegentlich "Versagensängste". Letztendlich obsiegt wieder die "Zuversicht, dass das Unternehmen langfristig erfolgreich sein wird". Mit Begeisterung will sie dafür kämpfen. Und diesen Optimismus strahlt die große, schlanke Frau, die es in ihrer Freizeit zum Klettern, Wandern oder Skifahren in die Berge zieht, auch optisch aus. Klar, in der Wirtschaft hätte sie als Informatikerin auf Anhieb auch mehr Geld verdienen können. "Aber das Geld war nie mein Driver", sagt sie. Unternehmer-Jargon.

Von ihrer Altbauwohnung an der Münchner Freiheit ist sie in wenigen Minuten am Arbeitsplatz. Muss ein Projekt fertig werden, sitzt sie dort "auch mal zwölf Stunden". Vieles muss warten: der Urlaub, die Familienplanung, der Traum, einmal einen Sechstausender in Nepal zu besteigen. Deshalb sei es beruhigend, den Partner mit im Team zu haben. Als Finanzmathematiker sei er ein guter Mitarbeiter, "der von außen wichtige Impulse geben kann".

Anregungen bekommt die Münchnerin auch von anderer Seite. Als eine von sieben Frauen ist sie für das "HVB Gründerinnen-Mentoring 2014" ausgewählt worden. Insgesamt 170 Unternehmerinnen hatten sich mit ihren innovativen Business-Ideen beworben. Sechs Monate lang wird die Informatikerin nun von einer erfahrenen Unternehmerin gecoacht und ermutigt, sich "smarte Ziele" zu setzen, die realistisch und messbar sind. "Ich habe gelernt, dass man oft aus seiner Komfortzone herausmuss und sich dabei trotzdem wohlfühlen kann", resümiert Kneidl ihre bisherigen Erfahrungen.

Akquise in schwierigem Umfeld

Im ersten Jahr nach der Gründung wurde das Start-up noch durch ein Exist-Gründerstipendium des Bundeswirtschaftsministeriums gefördert. Seit Anfang 2015 muss Kneidl nun mit ihrem Team alleine zurecht kommen. Das bedeutet momentan vor allem, sich der Akquise zu widmen: "Ein neues Projekt in Zürich ist sicher und ein paar andere sind in der Pipeline", sagt Kneidl. Dennoch findet sie es manchmal "traurig, wie wenig Geld Veranstalter für Sicherheit ausgeben wollen". In Großbritannien würden beim Neu- und Umbau von U-Bahnstationen bereits entsprechende Simulationen eingesetzt. Deutschland hinke hier hinterher. "Aber solange politisch kein Druck ausgeübt wird, will niemand Geld ausgeben", sagt Kneidl.

Der größte Auftrag war bislang eine Simulation für eine Großveranstaltung mit rund 7000 Menschen in einem Kreuzfahrthafen. Was passiert, wenn die im Hafen aufgebaute Bühne in Brand gerät oder einstürzt? Wohin strömen die Menschen? Viele Varianten spielte Kneidls Team am Computer durch und deckte Schwachstellen im Sicherheitskonzept der Planer auf. Klar wurde schnell, dass man die Menschen nicht zurück zu den Schiffen schicken sollte, weil sich sonst Menschentrauben an den Zugängen bilden würden. Stattdessen müssten die Menschen auf Seitenwegen am Hafen evakuiert werden.

Die Hauptaufgabe: Schwachstellen aufdecken

Und was ist mit Schwachstellen der Simulation, ihrem eigenen Haftungsrisiko? "Natürlich bilden wir nur den Idealfall ab und können nicht alle Eventualitäten implementieren, wie die, dass etwa ein Mensch stolpert", sagt Kneidl. Ihre Firma lege aber nicht die Maßnahmen fest, sondern überprüfe nur "nach State of the Art", ob Sicherheitspläne funktionieren.

Wie sich Menschen fortbewegen, beobachtet die Informatikerin längst nicht mehr nur am Computer. Bildet sich in einer U-Bahnstation eine Schlange an einer Rolltreppe, schaut Kneidl genau hin. Sie will wissen, wer welchen Weg nimmt. Auch über die Wiesn schlendert sie "nicht mehr so leichtfüßig" wie früher, sondern mit "einem geschärften Blick für potenziell gefährliche Situationen". Das Sicherheitskonzept des größten Volksfests der Welt zu überprüfen, wäre eine schöne Herausforderung: "Wir warten noch darauf, eine Simulation für die Wiesn erstellen zu dürfen", sagt Kneidl.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2433613
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.04.2015/vewo
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.