Buchkritik:Wenn die Hoffnung stirbt

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"Taumeln" ist Sina Scherzants zweiter Roman, 2023 erschien ihr literarisches Debüt "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne". (Foto: Nick Ellenberger)

Hannah ist seit zwei Jahren verschwunden und ein ganzes Dorf in Aufruhr. Die in München lebende Autorin Sina Scherzant nimmt die Lesenden in ihrem Roman „Taumeln“ mit auf eine emotionale Suche nach der Vermissten.

Von Dana-Marie Luttert

Eine Gruppe an Menschen trifft sich jeden Samstag auf dem Parkplatz vor dem Wald. Im Sommer wie im Winter, bei Schnee und Regen. Nach einigen Monaten kennen sie den Wald in- und auswendig, jede Abzweigung und jeden Baum haben sie abgesucht. Nach Hannah. Hannahs Verschwinden ist nun bereits zwei Jahre her. Besteht überhaupt noch Hoffnung, sie im Wald zu finden? Tot oder lebendig?

Was im ersten Augenblick nach einem gruseligen Krimi klingt, ist weder angsteinflößend, noch wird von cleveren Kommissaren der Grund von Hannahs Verschwinden ermittelt. Nicht der Fall steht im Zentrum des neuen Romans von Sina Scherzant, sondern die Gefühle der Suchenden. Von Hannahs Schwester Luisa, dem Rettungssanitäter Frank, den Freundinnen Emma und Amaka. Schnell wird klar, dass sie dort, im Wald, nicht nur die Vermisste suchen, denn: Wie groß ist die Chance, sie zu finden, überhaupt noch? Warum geben sie die Suche nicht auf?

Jedes der acht Mitglieder der Gruppe hat eine andere Motivation für das wöchentliche Treffen – in jedem Kapitel steht eine andere Person im Fokus. Auf wenigen Seiten lernt man sie intensiv kennen. Tief taucht die Münchner Autorin in die Gefühlswelten ihrer Figuren ein. Und schon mit den ersten Sätzen, die man etwa über Frank liest, kommt man ihm ganz nahe:

„Wenn die Leute doch die Wahrheit über ihn wüssten, das wäre doch peinlich, furchtbar peinlich. Er ist immerhin ein erwachsener Mann, und zwar so richtig erwachsen – das lässt sich schon lange nicht verleugnen.“ Frank schämt sich für seine Einsamkeit. Dass er weder Freunde noch eine Partnerin hat, versucht er, vor anderen zu verstecken.

Die Hintergrundgeschichten der Figuren, alle ähnlich emotional und berührend, offenbaren eine große Themenvielfalt. Neben Franks Einsamkeit sind da Alkoholismus, häusliche Gewalt, Queerness, das Aufwachsen ohne Eltern, Freundschaft und natürlich das Trauern um ein verschwundenes Familienmitglied. Überladen wirkt der Roman trotzdem nicht.

Es geht also nicht wirklich um die Suche nach Hannah. Im Fokus steht die Zusammensetzung unserer Gesellschaft, und dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Sina Scherzant erzählt, wie Menschen mit verschiedenen Hintergründen zusammenfinden können. Die Leerstelle, die durch Hannahs Verschwinden entsteht, ist der Ursprung für neue Freundschaften und Zusammenhalt.

Die Geschichte ist ambivalent wie das Leben. In manchen Momenten schöpfen wir Hoffnung, in anderen erleben wir Rückschläge und trauern. Für einige Charaktere wendet sich das Blatt zum Guten, andere müssen vorerst verloren bleiben. Während die Hoffnung, Hannah zu finden von Seite zu Seite kleiner wird, wächst der Glaube daran, dass sich die anderen Charaktere aus ihren misslichen Situationen befreien können. „Taumeln“ erzählt die berührende Geschichte von Menschen, die trotz ihrer Verschiedenheiten zusammenfinden, und ist ein Aufruf dazu, einander zu helfen und Gemeinschaften zu bilden.

Sina Scherzant, „Taumeln“, Park x Ullstein, Buchpremiere und Lesung mit der Autorin am Donnerstag, 12. September, 19 Uhr, im Zirka, Dachauer Str. 110c, Infos unter www.zirka.space

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