Dokumentarfilm und PreisverleihungDem großen Simon Rattle ganz nah kommen

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Ikonische Locken, größte Freude: Sir Simon Rattle bei einer Probe mit dem BRSO.
Ikonische Locken, größte Freude: Sir Simon Rattle bei einer Probe mit dem BRSO. (Foto: Paulus Mueller-Hahl/Kick Film)

Simon Rattle ist einer der berühmtesten Dirigenten der Welt. Ein neuer Dokumentarfilm porträtiert den Leiter des BR-Symphonieorchesters. Der Star am Pult erzählt von seinem Aufwachsen als „seltsames Kind“ in Liverpool – und äußert sich zum Konzerthaus München.

Von Egbert Tholl

Man sollte, sagt Simon Rattle einmal im Verlauf der knappen Stunde, die dieser Film dauert, nicht zu kindlich sein, „aber wie ein Kind zu sein, ist nicht schlecht“. Das große Kind ist Anfang dieses Jahres 70 Jahre alt geworden und einer der berühmtesten Dirigenten der Welt. Am 17. Mai erhält Sir Simon den Siemens-Musikpreis, die wichtigste Auszeichnung der Branche. Die 250 000 Euro Preisgeld will er für den Aufbau eines Originalklang-Ensembles beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO), dessen Chef er seit 2023 ist, nutzen.

Aber erst einmal, am 16. Mai, kommt Rattle ins Kino: Um 18 Uhr hat „Simon! The Joy of Conducting“ beim Münchner Dok-Fest Weltpremiere im Amerikahaus; Rattle selbst wird anwesend sein und die Fragen von Filmemacher Benedikt Schulte beantworten; Mitglieder des BRSO geben ein Kammerkonzert. Weitere Vorführungen des Dokumentarfilms sind am selben Tag um 20.30 Uhr in der Filmhochschule und am 18. Mai um 18 Uhr im City 2.

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Schnitt. Peter Sellars, weltberühmter Opernregisseur mit der Fähigkeit zu menschlich-emphatischer Begeisterung, erzählt, wie er die „kindlich-unbewusste Unschuld“ Rattles bewundert: „Sein Staunen ist immer echt.“ Dann erzählt er noch, wie sich die beiden einmal in die Haare kriegten; mit einer Aufführung der Johannespassion, 2014 in der Berliner Philharmonie, sei die Freundschaft beendet gewesen, was eindeutig eine einzige Flunkerei Sellars’ ist. Rattle selbst: „Peter gehört zu den musikalischsten Regisseuren überhaupt. Es hat die Fähigkeit, den Menschen, mit denen erarbeitet, die tiefsten Emotionen zu entlocken.“

In „Simon!“ gelingt es Benedikt Schulte, ein vielschichtiges Bild von Sir Simon Rattle zu zeichnen, federleicht hingetupft. Schulte ist ein Filmemacher, der auch Partituren lesen kann, das merkt man an der Auswahl der vielen Konzert- und Probenmitschnitte, die es hier zu sehen gibt, das merkt man aber auch an seinem Instinkt für Rhythmus. Weggefährten, Schüler, ein alter Lehrer kommen zu Wort, pointiert, treffend. Man kommt Rattle nah, man glaubt, mit auf Tournee zu sein. Rattle, das menschliche Ereignis: Er entschuldigt sich, wenn er zu spät zur Probe kommt, weil er im Stau stecken blieb; natürlich, er ist auf dem Podium Chef, so weit nötig. Er erzählt aber auch, wie wichtig es ist, einem Orchester vertrauensvolle Freiheit zu geben. Als er zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker dirigierte – Mahlers Sechste, fast ein Schicksalsstück für ihn – ließ er in der ersten Probe einfach durchlaufen. Bis zur Pause habe er nur „guten Morgen“ zum Orchester gesagt. Sonst keine Anmerkung.

Am 17. Mai erhält Simon Rattle den Siemens-Musikpreis, die wichtigste Auszeichnung der Branche.
Am 17. Mai erhält Simon Rattle den Siemens-Musikpreis, die wichtigste Auszeichnung der Branche. (Foto: Dok-Fest München)

Die Idee für den Film war ursprünglich, ein Making-off der Aufführungen von Schönbergs überbordenden „Gurre-Liedern“ zu drehen. Gleich zu Beginn, Rattle besucht seine Heimatstadt Liverpool, erzählt er von seiner Kindheit, „die Musikbibliothek war mein Spielplatz“. Einmal nahm er die Partitur der „Gurre-Lieder“ im Bus mit nach Hause, der Achtjährige verschwand hinter dieser, die Leute lachten: „Seien wir ehrlich: Ich war ein seltsames Kind.“

Schließlich wurde der Film viel größer, Schulte begleitete eine Tournee des BRSO, war fasziniert von Rattles überbordender Freude an der Musik, davon, wie er eine Verbindung zwischen der Musik und dem Publikum herstellen kann, von der Nähe zum Backstage, da gebe es keine Unterschiede im Umgang zwischen zweiter Geige oder Starsolist. Man sieht es im Film.

In Birmingham kannte ihn jeder auf der Straße

Und viele lustige Details! Als der heute 91-jährige John Carewe, Rattles erster echter Lehrer, den damals 17-Jährigen kennenlernte, sagte er nach einer Mozart-Probe zu ihm: „Du bist wirklich sehr begabt. Aber das heute war schrecklich.“ Heute, sagt Carewe, lerne er von ihm, komme immer noch zu den Proben. Daniel Harding, längst selbst ein Pultstar, berichtet, wie er eine Kassettenaufnahme mit einem Stück, das Rattle gerade selbst dirigiert hatte, bei ihm vorbeibrachte. Dessen Analyse: „Technisch ist deine Aufführung besser. Aber du verstehst gar nichts.“ Da wusste Harding über Rattles Humorlage Bescheid.

Wegstationen: natürlich Birmingham, wo alles begann. Rattle und Ed Smith, der Intendant des City of Birmingham Symphony Orchestra, beide damals in ihren Zwanzigern, krempelten das Orchester um und die Stadt gleich mit. Rattle kannte jeder auf der Straße, sie bekamen einen neuen Saal. Den erhielt Rattle nicht in London, den kriegt er auch nicht in München. „Ich kam nicht hierher wegen eines Saals, sondern wegen der großartigen Musiker, und ich werde sie dabei unterstützen, eine neue Heimat zu finden. Selbst wenn das dann vielleicht nur mein Nachfolger erlebt.“

Gern aber würde er das selbst erleben. Doch: „Seien wir ehrlich: Es fehlt am politischen Willen. Das ist wirklich enttäuschend in einer Stadt, für die Kunst und Kultur so fundamental sind.“ Und es muss besonders enttäuschend sein für einen überwältigenden Musiker, der stets die kommenden Generationen mitdenkt.

„Simon! The Joy of Conducting“, Premiere am Freitag, 16. Mai, 18 Uhr, Amerikahaus, mit Rattle und dem BRSO Terzett, 20.30 Uhr, HFF, Sonntag, 18. Mai, 18 Uhr, City 2

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