Silvesterabend:Eine Nacht zwischen Angst und Rausch

Wie man Alarm schlägt und Bahnhöfe sperrt, während Zehntausende draußen feiern.

Von Thomas Anlauf und Nina Bovensiepen

Die Silvesterpartys von Dieter Reiter und Hubertus Andrä währen kurz. Münchens Oberbürgermeister ist mit seiner Frau bei Freunden, um den Jahreswechsel zu feiern - als Reiter um kurz nach 21 Uhr über die Terrorgefahr in München informiert wird. Eine Stunde später hält es ihn nicht mehr auf dem Fest, er fährt nach Hause, um sich den Rest der Nacht ständig über die Sicherheitsbehörden auf dem Laufenden zu halten.

Für Polizeipräsident Hubertus Andrä, der ebenfalls privat eingeladen ist, endet der fröhliche Teil des Abends schon um 19.40 Uhr. "Zum Glück gab es keine aufwendigen Speisen", sagt der Polizeipräsident bei einer um zwei Uhr nachts kurzfristig anberaumten Pressekonferenz, zu der auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) aus Erlangen geeilt ist. Wie überstürzt dieser seine private Feier im Freundeskreis verlassen haben muss, sieht man ihm an: Im Gegensatz zu Andrä sitzt der Minister ohne Krawatte und mit offenem Hemd im Medienzentrum des Polizeipräsidiums.

Böllerfreie Zone

Er hat eine seltsame Gleichzeitigkeit, dieser Jahreswechsel in München. Für Reiter, Andrä, Herrmann und Hunderte Einsatzkräfte, die in einer beachtenswerten Blitzaktion in der bayerischen Landeshauptstadt zusammengerufen werden, ist es eine Nacht der höchsten Anspannung. Eine Nacht der Angst. Wie bedrohlich die Lage eingestuft wird, ist an Mitternacht in der Innenstadt zu spüren.

Der Hauptbahnhof, von dem im Spätsommer Bilder um die Welt gingen, weil die Münchner dort Flüchtlinge freudig begrüßten, wirkt gespenstisch. Alle Eingänge sind mit rot-weißen Absperrbändern dicht gemacht, davor patrouillieren mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte im Kampfmontur - ein Bild, das für München alles andere als normal ist. Und für die Silvesternacht sowieso. Es ist still. Es ist unheimlich.

Nur wenige Straßenzüge weiter ist die andere Seite dieser Nacht zu sehen: München im Silvesterrausch. Es knallt und böllert in den nebligen Abend hinein, die Luft dampft, der Feinstaub wirbelt, Menschen umarmen sich und wünschen sich fröhlich ein gutes neues Jahr. Ganz offensichtlich ist es doch nicht so, dass jeder Münchner sein Smartphone im Minutentakt checkt.

Hier hat die Nacht noch nicht der Schrecken gepackt, der sich vor allem über die sogenannten sozialen Netzwerke in diesen Stunden aber immer weiter verbreitet. Dies geschieht insbesondere über den Twitter-Account der Münchner Polizei - der von dem Moment an, als die Sicherheitsbehörden entscheiden, mit der Terrorwarnung an die Öffentlichkeit zu gehen, reibungslos läuft, mehrsprachig, und mit Botschaften, die wachsam machen, aber nicht Panik schüren.

Um 22.40 Uhr am Silvestertag wird die erste Mitteilung über diese Quelle verschickt. "Aktuelle Hinweise, dass in #München ein Terroranschlag geplant ist. Bitte meidet Menschenansammlungen und die Bahnhöfe Hauptbahnhof + Pasing", lautet sie. Seit wenigen Stunden sind das Bundeskriminalamt und die bayerische Polizei vom Bundesnachrichtendienst über eine mögliche Terrorgefahr alarmiert; nun entscheiden sie, das publik zu machen.

Die Münchner und ihre Gäste sollen erfahren, welches die Bedrohungspunkte in der Stadt sind und wie sie sich verhalten sollen. Diese Botschaften werden im Laufe der Nacht auf Deutsch, Englisch, Türkisch und anderen Sprachen verbreitet - die Auswahl der Sprachen folgt dabei keinem System, sondern der Sprachbegabung der anwesenden Kollegen bei der Polizei. Innerhalb weniger Stunden steigt die Zahl derer, die auf die Polizeikanäle von Twitter und Facebook zugreifen, um 50 Prozent an. Die Tweets wirken dabei trotz der bedrohlichen Lage seriös und äußerst professionell.

Letzteres gilt neben der Kommunikation in diesen Stunden auch für die Mobilisierung. Nun, da sie Alarm schlagen, tun die bayerischen Behörden das mit aller Kraft. Innerhalb kürzester Zeit sind 550 Polizisten im Einsatz, nicht nur Münchner Personal, das an Silvester ohnehin verstärkt im Einsatz gewesen wäre. Es kommen auch Beamte der Bundes- und der Bereitschaftspolizei sowie das Personal anderer Präsidien aus ganz Bayern nach München. Auch zwei Spezialeinsatzkommandos (SEK) mit mehreren Dutzend Beamten aus München und Nürnberg werden eingesetzt. Sie sind mit Schnellfeuergewehren, Helmen und schweren, schusssicheren Westen ausgerüstet. Sie alle sollen, wenn möglich, das Schlimmste verhindern: einen Terrorangriff um Mitternacht, wenn die Stadt es mit Hunderttausenden Böllern und Raketen krachen lässt.

In München werden die zwei vermeintlich bedrohten Bahnhöfe gesperrt, der Hauptbahnhof sowie der Pasinger, der einer der größten Verkehrsknotenpunkte in ganz Bayern ist. Am Hauptbahnhof werden Passanten ruhig, aber entschlossen von den Beamten gebeten, weiterzugehen oder die Straßenseite zu wechseln. Auf neugierige Fragen gibt es keine oder sehr zurückhaltende Antworten.

Wie die Münchner auf die Warnung reagieren

Silvesterabend: Wenige Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt feiern viele Münchner auf den Isarbrücken ausgelassen den Jahreswechsel.

Wenige Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt feiern viele Münchner auf den Isarbrücken ausgelassen den Jahreswechsel.

(Foto: Stephan Rumpf)

Innerhalb kürzester Zeit steigt auch an vielen anderen Stellen der Stadt die Polizeipräsenz rasant an. Beamte laufen durch die Straßen, leuchten mit Taschenlampen dunkle Winkel aus - während manche Feiernden weiter ihr scheinbar ganz normales Silvester begehen. Viele Münchner erfahren über Twitter und Facebook und Online-Nachrichten von der möglicherweise drohenden Gefahr.

Die einen reagieren gelassen, wie eine Frau, die mit ihrem Mann Arm in Arm auf einer Brücke über der Isar das Feuerwerk im nächtlichen Nebel betrachtet: "Es ist schließlich noch nichts passiert, oder?", sagt sie. Andere nehmen die Bedrohung sehr ernst. Bei der Polizei gehen in der Nacht zahlreiche Anrufe auch von Veranstaltern ein, die fragen, ob sie ihre Silvesterparty auflösen sollen.

Die Polizei beruhigt, sie geht vor allem den konkreten Hinweisen mit den Anschlagzielen auf die beiden Bahnhöfe nach. "Es gab einen konkreten Ort und eine konkrete Zeit", sagt Polizeipräsident Andrä in der Nacht zum Freitag. Die größte Silvesterfeier der Stadt, das Münchner Winter-Tollwood auf der Theresienwiese mit etwa 10 000 Besuchern, steht zwar unter polizeilicher Beobachtung, auf eine Räumung der Zelte und des Oktoberfestgeländes verzichtet die Einsatzleitung der Polizei aber. Trotz der massiven Präsenz: Panik soll nicht provoziert werden.

So betriebsam die angeworfene Maschinerie in der Nacht läuft, so spärlich fließen die Informationen zu der Terrorwarnung in den Stunden danach. Bei allen ist große Erleichterung zu spüren, dass München am Ende doch eine Silvesternacht ohne Terror erlebt. Es sei gut, dass die Stadt auch gefeiert habe, sagt der Oberbürgermeister am Neujahrstag. "Wir werden unser Leben nicht wegen solcher Bedrohungen ändern", so Reiter, "gemeinsam sind wir stärker als die Terroristen." Ähnlich äußert sich Polizeipräsident Andrä Freitagmittag. Es gebe immer wieder Hinweise auf mögliche Anschläge in der Landeshauptstadt. "Aber ich empfehle den Menschen, weiterhin so zu leben, wie sie es gewohnt sind."

Trotz mehrerer Pressekonferenzen bleiben viele Fragen, die sich nach dieser ungewöhnlichen Silvesternacht stellen, offen: Obwohl die Polizei die konkrete Terrorwarnung am Morgen aufhebt, gibt es zunächst keinerlei Festnahmen, von den mutmaßlichen Tätern aus Syrien und dem Irak fehlt jede Spur. Sind sie entkommen? War das etwa halbe Dutzend Männer, von dem die Rede ist, überhaupt an Silvester in München? Und wer sind die mutmaßlichen Terroristen?

Nur von der Hälfte der Verdächtigen, die der französische Geheimdienst gemeldet habe, gebe es konkrete Namen und Daten. Allerdings soll nicht einmal bekannt sein, ob die auf der Terrorliste stehenden Menschen überhaupt existieren. "Wir klären derzeit ab, ob es diese Personen tatsächlich gibt", sagt Andrä. Offenbar nur, wenn die mutmaßlichen Attentäter der Polizei direkt in die Arme laufen würden, "haben wir so konkrete Daten, dass man sie identifizieren kann".

Auch Bayerns Innenminister Herrmann bleibt in seiner ersten Einschätzung der Lage vage. Die Information über einen möglichen Terroranschlag in München sei "nicht hundertprozentig belastbar, aber sie kann nicht ignoriert werden". Freitagmittag sind seine Aussagen noch allgemeiner. Man müsse sich auch in Deutschland auf eine längere Auseinandersetzung mit dem IS einstellen. Ein Terroralarm wie der am Silvesterabend, so Herrmann, sei deshalb "wahrscheinlich nicht das letzte Mal" ausgelöst worden.

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