Sigi Sommer:Der nörgelnde Philosoph der Sendlinger Straße

Auf den Spuren von Blasius, dem Spaziergänger - wie Sigi Sommer Geschichten über sein München erzählte

Von Wolfgang Görl

Die Sendlinger Straße, schreibt Sigi Sommer, ist "ja nur ein Wurmfortsatz des Marienplatzes und auch genauso unwichtig". Hört, hört, möchte man dem verehrten Autor noch ins Grab hinterherrufen, die Sendlinger Straße ist ihm nicht wichtig genug! Einem Wurmfortsatz setzt er sie gleich, und später fügt er die Bemerkung hinzu, ebenso perfide wie vertrackt: "Eigentlich wäre der einzige Weg durch die Sendlinger Straße der Umweg über sie." Derlei Schmähungen, gegen wen auch immer, sind früher mit Gefängnis bestraft worden, in diesem Fall aber mit einem Denkmal, das den zu Bronze erstarrten Münchner Schriftsteller Sigi Sommer beim Spaziergang zeigt. Wohin? In die Sendlinger Straße.

Wir zögern nicht, dies als subtiles Revanchefoul einer höheren Macht zu deuten, ohne dabei die profane Auslegung in Zweifel zu ziehen, derzufolge die Bronzefigur nachbildet, was Sigi Sommer wöchentlich getan hat: in die Abendzeitung oder die Süddeutsche zu gehen, um seine Manuskripte abzuliefern und - stante pede - den Obulus dafür zu kassieren.

Knapp sechstausend waren es zwischen 1946 und 1987. Für die SZ schrieb er Lokalspitzen, für die Abendzeitung aber legte er sich ein Alter Ego zu, "Blasius, der Spaziergänger" mit Namen. Das war ein Mensch, der durch die Stadt flanierte und über dies und das auf hohem Niveau grantelte, ja, wirklich grantelte, denn der Grantler, so schrieb er einmal, ist "keineswegs ein Meckerer, sondern genau genommen einfach der Übergang vom Nörgler zum Philosophen".

Verloschene Sehnsüchte

Wenn Blasius durch die Stadt spazierte, dann sprangen da mitnichten Texte heraus nach der heute in Lokalredaktionen beliebten Dienstanweisung: "Geh mal in die Occamstraße, bisschen Atmosphäre einfangen!" Mit der detailgenauen Schilderung von Boutiquenschnickschnack hätte sich Blasius nicht aufgehalten, ihm wären ganz andere Dinge aufgefallen: Häuser, die Geschichten erzählen, halbverwehte Spuren von Menschen, die dort einmal gelebt haben, unerfüllte Träume, verloschene Sehnsüchte, aber auch der Wahn und die Eitelkeit der Zeitgenossen, die Aufgeblasenheit so genannter Honoratioren und die Schrullen der kleinen Leute.

Der nörgelnde Philosoph der Sendlinger Straße

Sigi Sommer, der am 23. August 90 Jahre alt geworden wäre, spazierte durch München, wie einer der durch Mauern sehen und Zeitschranken überwinden kann. Wenn hier eine kleine Spekulation erlaubt ist: So, wie es später in der Zeitung stand, hat sich kaum einer der Spaziergänge abgespielt.

Seine Promenaden fanden am Schreibtisch statt. Waren die wunderbaren Geistesblitze eines Autors, der mit München vertraut war wie kein anderer, der das Fluidum der Stadt zeit seines Lebens eingesogen hat wie Zigarettenrauch.

Genug der philologischen Bedenkenträgerei, machen wir uns auf den Weg mit Sigi Sommer durch die Sendlinger Straße, so wie er sie in einer Blasius-Kolumne geschildert hat. "Sie wuiselt sich weinerlich durch ihren eigenen Verkehr", schreibt er, "vorbei am Kaufhaus ,Katzensprung'" - und schon stocken wir. Wie bitte: Kaufhaus Katzensprung? Man muss tief in den Kindheitserinnerungen kramen, um die Sache zu enträtseln. In der Abteilung "Alte Reklamesprüche" werden wir fündig: "Kaufhaus Konen - ein Katzensprung vom Marienplatz."

Ein ermutigender Beginn ist das, denn das betreffende "Textilsilo" (so Blasius) gibt es noch immer, sogar runderneuert und mit aufgemöbelter Fassade. Weiter also zu den "beiden Lohnschreibereien, in denen sich zwei bekannte Zeitungen befinden". Nicht mehr lange, Spezi, nicht mehr lange. Der Süddeutsche Verlag hat sein Areal verkauft, in ein paar Jahren muss die SZ-Redaktion ihr Haus räumen, um Platz zu machen für neue Geschäfte, von denen es, wie der ehemalige Kollege Axel Hacke kürzlich schrieb, "wohl nie genug geben kann".

Hier wird also bald ein Nachruf fällig, so ist das, Herr Sommer, dann marschiert Ihr Denkmal auf ein Einkaufszentrum zu (die AZ wird es hoffentlich noch geben), und "jene gescheiten Leute, die heute immer schon wissen, was morgen geschah", die Journalisten und Lohnschreiber sind dann auch verschwunden, ausgenommen die Abende, an denen einer von ihnen im Beck-Forum über die Verödung der Altstadt mitdiskutieren darf, an der Seite besorgter Gewerbesprecher und Kommunalreferenten.

Darüber räsonierend, sind wir zur Asamkirche gelangt, "jenem Tempel, den zwei Brüder zum Dank dafür errichteten, weil sie in der Donau einmal nicht ersoffen sind". Das Jesuskind rechts neben dem Altar, das sich am Pflegevater Josef festhält, regte Blasius zu der Frage an, was der Gottessohn in seiner Lausbubenzeit alles getan hat: "Hat er womöglich einen Hund gehabt als Freund? Oder einen Spezl, mit dem er zusammen auf die Ölbäume kletterte und Oliven lutschte?" Dann wurde er unterbrochen in seinen Gedanken, denn "rot gewaschene Kinder kommen herein" und "Fremde aus Freilassing".

Der nörgelnde Philosoph der Sendlinger Straße

Da umweht uns ein Hauch des alten, des dörflich-provinziellen Münchens entgegen, in dem rotznäsige Kinder rot gerubbelt wurden und Freilassinger als Fremde, ja fast schon als Exoten galten. Heute, da Playstation und Ballack-Trikot zur kindlichen Grundausstattung und Fremde aus Shanghai zum vertrauten Stadtbild gehören, fällt es ein wenig schwer, von der Asamkirche als "Altbauwohnung des lieben Gottes" zu sprechen. Sie sieht verdammt neu aus nach der Renovierung; nur die großartige Architektur spricht für ihr Alter.

Was aber Blasius zuletzt erzählt, scheint so fern, so versunken wie Atlantis. "Die Sendlinger Straße galt neben der Müllerstraße schon immer als eine ,Rue de Galopp' der Handelsklasse C." Einen Straßenstrich der billigen Sorte, so etwas gab es in der Altstadt, ehe man beschloss, alles, was anrüchig ist und anständige Männer auf dumme Gedanken bringen könnte, in die Peripherie zu verbannen.

Schon Blasius konnte über die Sache nur noch aus der Erinnerung berichten, und mit ein paar Zeilen gelang ihm ein formidables Porträt der "schwarzen Nana", einer frommen, Rosenkranz tragenden Hure, die "geheimnisvoll war und immer traurig wie die Zypressen auf den Böcklin-Bildern". Sie wohnte mit einem Angorakater zusammen, und in den Durchgängen zum Unteranger lauerten die "Luis", die Zuhälter, mit ihren Schlagringen. "Eines Tages aber schwang die dunkle Todsünde am Halse in diesem Spitzbogengang. Und auf der Schulter saß der Kater und schrie und schrie und schrie."

Sommer 2004, wir spazieren durch die - haha - verruchte Sendlinger Straße. Damen mit Einkaufstüten stöckeln übers Trottoir, Herren im Business-Anzug verbreiten jene Dynamik, die das Land voranbringt oder auch nicht. Hier der "Vodafone"-Laden, schräg gegenüber "debitel", bei "Kookai" prunken Schaufensterpuppen mit Phantasieorden, "Leo Shoes", "Scarpe e moda" und "Schuhskandal" liefern sich einen beinharten Wettbewerb auf dem Fußbekleidungssektor. Nur das Seilerwarengeschäft, Hausnummer 36, wo im Schaufenster Seemannsknoten zu besichtigen sind, verbreitet den Hauch einer Ahnung, dass es hier mal etwas anderes gab als das saubere, gelackte, geschniegelte München.

Der Föhn weht durch die Seitengassen, jetzt müssten wir, hat Blasius geschrieben, den Kater der schwarzen Nana schreien hören. Aber wir hören nichts.

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