Siemens-Archiv:Besuch beim "Herrn im Frack"

Siemens-Archiv: Dieses Radio von 1935 wird auch "Herr im Frack" genannt.

Dieses Radio von 1935 wird auch "Herr im Frack" genannt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Radios mit Namenstitel, Backöfen, die erklären, warum man Braten bis heute "ins Rohr schiebt": In Neuperlach verwahrt Siemens 15.000 Exponate aus seiner Firmenhistorie. Sie erzählen deutsche Alltagsgeschichte.

Von Katja Riedel

Willkommen in unseren heiligen Hallen", sagt Hermann-Josef Moufang. Er deutet auf das, was sie hier nur "das Depot" nennen. Es ist das Archiv des Historischen Instituts, welches der Siemens-Konzern sich leistet und in dem Moufang dreidimensionale Archivalien aus der Unternehmenshistorie sammelt. Vom Toaster im Olympiadesign von 1972 bis zum Tiefseekabel, das Europa mit Übersee verband.

In einer Halle auf dem Firmengelände in Neuperlach hat Siemens seine Vergangenheit eingelagert, Erwartbares wie Überraschendes: Telefone und Kabel, Motoren und Radios, Computer, Telegrafen, Kabel und Gasturbinenschaufeln. Etwa 15 000 Exponate umfasst die Sammlung, im Internet kaufen die Firmenhistoriker weitere dazu, die mit Inventarnummer und historischen Hintergründen versehen in den Regalen verstaut werden. Manches Exponat stammt auch von staubigen Dachböden, wo frühere Nutzer ein Radio oder einen Computer finden und diese nach Neuperlach schicken statt sie zu verschrotten.

All die technischen Geräte sprechen nicht nur für die Technikgeschichte, sie transportieren Emotionen, Erinnerungen, sie erzeugen Bilder im Kopf und rufen längst vergangene Gerüche zurück. Das Siemens-Depot ist ein Museum der Technikgeschichte, aber auch des Alltags im 19., 20. und 21. Jahrhundert, das freilich nur einen Bruchteil dessen abbildet, was der Konzern in seinen fast 170 Jahren Firmengeschichte entwickelt und verkauft hat, von 1847 bis heute. Und das Siemens bisher allein Gästen zeigt, nicht der Öffentlichkeit. Nun hat der Konzern seine greifbare Historie erstmals der Süddeutschen Zeitung zugänglich gemacht.

Ein Gang durch die Regalreihen ist auch ein Ausflug in all das, was der Konzern einst war. Zu finden sind Produkte und Zweige, für die Siemens einmal stand oder an deren Entstehen das Unternehmen zumindest beteiligt war. Darunter ist vieles, wovon man sich getrennt hat - in weit zurückliegender oder in ganz naher Vergangenheit.

"Manchmal ist es überraschend, was man hier findet"

Autos zum Beispiel. Ein Nachbau der "Elektrischen Viktoria", die Siemens-Schuckert 1905 baute, und die mit 30 Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit als Lieferwagen, Klein-Omnibus oder Hoteltaxi durchs Land rollte. Mit der größten verfügbaren Batterie schaffte das Gefährt es, 80 Kilometer zurückzulegen, bis der Akku wieder ans Netz musste - kaum weniger als heutige Elektrofahrzeuge. Bis Mitte der 1930er Jahre produzierte Siemens auch Kraftwagen, die bekanntesten unter dem Namen "Protos".

Auch ein Motorrad ist zu sehen, eine frühere Beteiligung. "Manchmal ist es überraschend, was man hier findet", sagt Hermann-Josef Moufang, der die Sammlung verwaltet. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er hier, wechselte aus dem inzwischen geschlossenen Siemens-Museum nach Neuperlach. Einen alten Teppich hat er aus dem Museum mitgebracht, eingerollt liegt er auf einem Regal. Kein Exponat, aber doch ein emotional belegtes Stück. "Wenn man einmal in dem Sammelgeschäft drin ist, dann kann man nicht mehr aufhören", sagt er.

Backblech und Pfanne für 48 Mark

Dieses Sammelgeschäft hat besonders viele Gegenstände in die Regale befördert, die den Alltag des 20. Jahrhunderts mitgeprägt haben. Rote und grüne Staubsauger, die ein bisschen aussehen wie Miniaturraketen. Mixer in leuchtend-orange. Rohre, in denen der Sonntagsbraten zubereitet wurde und die erklären, warum man eben jenen Braten bis heute "ins Rohr schiebt". "Protos-Kleinküche EBA", heißt das schwarze Modell, das 1926 gebaut wurde und inklusive Backblech und Pfanne einmal für 48 Mark zu erwerben war, lieferbar bis in die Fünfzigerjahre. Die Röhre stammt aus der Pionierzeit der Hausgeräte - jener Sparte, die Siemens zuletzt an die Bosch-Siemens-Hausgeräte ausgelagert hatte und von der sich der Konzern in dieser Woche endgültig getrennt hat. Ofen wie Hausgeräte stehen für die Elektrifizierung des Haushalts.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem die Siemens-Schuckertwerke viel für die Marine produziert hatten, nutzte Siemens plötzliche Überkapazitäten für den Einstieg in die Haushaltswarenwelt. Zunächst produzierte man Staubsauger, dann folgten Mitte der Zwanzigerjahre Küchen-, Wasch- und Bügelmaschinen, als nächstes Kühlschränke und Geschirrspüler, Kaffeemühlen und elektrisch beheizbare Massagegeräte, in den Dreißigerjahren Heißluftduschen, Rasierapparate und Bügelmaschinen.

Genauso reich gefüllt, und firmenhistorisch schon länger Vergangenheit, sind die Regale mit allem, was mit Kommunikation und Medien zu tun hat: Telefone, Fernschreiber, Radios und Fernseher. Auch einige Grammofone liegen in den Regalen versteckt. Größer präsentiert, in einer kleinen Ausstellung, hat Sammler Hermann-Josef Moufang die historisch bedeutsamsten Meilensteine der Firmenhistorie. Auch ein Nachbau des Zeigertelegrafen von 1847 ist darunter, dessen Erfindung einst die Firma Siemens & Halske begründete.

Daneben die Überreste der großen Abenteuer: Ein daumendickes Stück Kabel zum Beispiel. Die mit Guttapercha ummantelten Kabel verbanden Europa und Amerika, sie zu verlegen, war eine der größten Herausforderungen der Kommunikationsgeschichte. Die Siemens-Brüder waren dabei: im Rennen um den finanziellen Gewinn, der auch Mitbewerber lockte, genauso wie das Abenteuer.

Heute verlegt Siemens keine Tiefseekabel mehr, baut nicht einmal mehr Telefone, keine Computer, keine Staubsauger. Es wird Menschen geben, welche die vielen Wandlungen und Verschlankungen an einem Ort wie diesem bedauern, gerade in München, wo einst fast 50 000 Menschen für Siemens arbeiteten - und heute nur noch 9000. Für sie mag das Depot anmuten wie ein Mausoleum. Doch Siemens ist nicht der einzige frühere Großkonzern, der sich im weltweiten Wettbewerb konzentriert: auf neue Wachstumsmärkte, neue Technologien. Heute baut Siemens Windräder auf hoher See. Ein Windrad fehlt noch im Depot.

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