Süddeutsche Zeitung

Siedlung Ludwigsfeld:"Wir werden weniger"

Mit dem Zuzug von Neubürgern wandelt sich der Charakter der Siedlung Ludwigsfeld. Alteingesessene bedauern den Verlust des starken Gemeinsinns - und beobachten, wie ihr einst dörfliches Viertel zum Teil der Großstadt wird

Von Simon Schramm, Siedlung Ludwigsfeld

Ungewöhnlich war schon die Entstehung der Siedlung Ludwigsfeld: 1953 auf Fundamenten eines Außenlagers des Konzentrationslagers Dachau gebaut, siedelten sich dort im Laufe der Jahre Menschen aus mehr als 25 Nationen an; sie leben auf einem kleinen Flecken am Stadtrand von München mehr oder weniger friedlich miteinander. Darauf sind die Alteingesessenen der Siedlung heute noch stolz. "Ich selbst bin Ukrainerin, dann gab es die Russen, die Polen, die Litauer, die Letten, die Georgier, die Aserbaidschaner", sagt Irene Jazenko, Ludwigsfelderin von Geburt an. "Und es gab auch ein paar Deutsche." Jeder habe jeden gekannt, schwärmt Jazenko, und darum sei auch gegenseitig aufeinander geachtet worden.

Viele aus dieser originären Bewohnerschaft der Siedlung Ludwigsfeld machen in letzter Zeit eine Beobachtung: "Wir werden weniger", erzählen sie; Vorwürfe wollen sie Zugezogenen nicht machen, aber: Mit der besonderen Gemeinschaft, die die Siedlung immer ausgezeichnet hat, haben viele neue Bewohner offenbar nichts am Hut. Irene Jazenko beschreibt es so: "Erst einmal weiß man nicht mehr so viel von denen, das ist man gar nicht gewöhnt." Vielleicht lässt es sich so zusammenfassen: Die Siedlung Ludwigsfeld ist offenbar auf dem Weg, ein normaler Teil der Großstadt zu werden: mehr anonymes Nebeneinander, weniger dörfliche Community. Ein bisschen angedeutet hatte sich diese Entwicklung schon kurz vor der Jahrtausendwende, als im Osten der Siedlung erstmals nachverdichtet wurde.

Es mag einerseits an der natürlichen Entwicklung einer Gemeinschaft liegen, bei der die ältere Generation verstirbt. Viele Einwohner sind aber der Meinung: Auch der Umgang von Politik und Eigentümern mit der Siedlung habe dazu beigetragen, dass sich das Leben dort verändert hat. Als Beginn des Wandels sehen sie das Jahr 2007 an, als der Bund den größten Wohnungsbestand des Viertels an das Immobilienunternehmen Patrizia verkaufte.

Mit einem Privatinvestor stiegen die Mieten in der Siedlung erstmals rascher als davor. "Das war ein Wendepunkt", sagt Irene Jazenko. Aufgrund der Mieten und der Unzufriedenheit der Leute mit der Patrizia, habe man sich nicht mehr so wohl gefühlt. Johannes Thiel, ebenfalls Ludwigsfelder der ersten Stunde und lange Zeit Hausmeister in einigen Ludwigsfelder Blöcken, ergänzt: "Wir sind schon die kleinere Gruppe geworden." Früher sei es üblich gewesen, dass die zweite oder dritte Generation sich auch in Ludwigsfeld ansiedelt, mittlerweile würden die Jüngeren in die Stadt ziehen, sagt Thiel.

Thiel befürchtet, dass das Gemeinschaftsgefühl in der Siedlung zerfällt. Bei vielen Zugezogenen bestehe kein Interesse an Ludwigsfeld, kein Bezug zum Hintergrund des Viertels. "Man hat seine Wohnung und geht in die Arbeit", sagt der 70-Jährige. Einzig junge Familien suchten manchmal den Kontakt zu den Alteingesessenen. Andererseits: Ist es überhaupt möglich, sich automatisch in die besondere Historie der Siedlung einzufügen? "Es gibt jedes Jahr im Mai ein Siedlungsfest, zu dem wir in jeden Haushalt eine Einladung einwerfen und die Leute auch ansprechen", sagt Irene Jazenko. Trotzdem würden nur sehr wenige Zuzügler zu diesem Fest kommen, genauso sei es bei anderen Festen vom örtlichen Sportverein oder einem Kultur-Open-Air.

Jazenko und Thiel lesen die Veränderungen in der Siedlung auch den Klingelschildern der Wohnhäuser ab. Immer öfter tauchen Namen auf, die sie nicht mehr kennen. Beispiel Opalstraße: "Hier in dem Haus wohnt meine Tochter", sagt Irene Jazenko. "Über ihr in der Wohnung hat schon dreimal der Mieter gewechselt. Sie weiß bis heute nicht, wer das ist." Beide beobachten, dass viele Zugezogene nach einer Weile die Siedlung wieder verlassen, sie vermuten, dass es an der fehlenden Infrastruktur liegt. "Es würde der Integration der Neuen helfen, wenn es eine Kneipe gäbe", glaubt Irene Jazenko.

Zum besonderen Profil der Siedlung gehört, dass es in Ludwigsfeld fünf Gotteshäuser gibt. Neben katholischen und orthodoxen Kirchen gehört seit Entstehung der Siedlung auch eine buddhistische Gemeinde zum Viertel. Seit den siebziger Jahren ist der tibetisch-buddhistische Tempel der kalmückischen Gemeinde, einem westmongolischen Stamm, in einer schlichten Drei-Zimmer-Wohnung in der Rubinstraße beheimatet. Nimgir Bemejew, 59 Jahre alt, hat schon als Kind in diesen Räumen den Gebeten zugehört und betreut den Tempel mittlerweile. Auch er registriert, dass der Charakter der Siedlung sich ändert. "Die alte Gemeinschaft ist kleiner geworden", sagt er. Auch die Gemeinde der Kalmücken im Münchner Norden sei geschrumpft, sagt Bemejew, manche hätten geheiratet, einige seien verstorben. "Heute sind es sieben bis acht, früher waren es 50 Mitglieder." Die religiösen Bräuche in der Rubinstraße halten Bemejew und der tibetische Kultur-Verein Norbu Ling am Leben, der die Räume öfters nutzt.

Tritt Bemejew in den Tempelraum, fällt zunächst der Altar mit einem breiten Schrein aus Marmor in den Blick. Neben Gebetsmühle und Buddha-Statuen stehen an allen Ecken Fotos, auf denen der Dalai Lama lächelt - er war schon zweimal in diesen Raum zu Gast. Links vom Schrein hat Bemejew eine Art Gedenkort eingerichtet, Kerzen stehen vor Fotos der verstorbenen Gemeindemitglieder. Bemejew erinnert sich: "Viele von den Leuten konnten ja nicht so gut Deutsch. Mein Vater war Vorsitzender der Gemeinschaft und konnte es immerhin in Wort und Schrift einigermaßen. Wenn Beamtengänge waren, hat er immer geholfen, wenn jemand Probleme hatte, nicht nur den Kalmücken, auch den Russen."

Wenn es um die Gemeinschaft in der Siedlung geht, hat Bemejew den Eindruck,

dass Alteingesessene und Neubürger sich kaum vermischt hätten. Von den neuen Bewohnern aus dem Neubauten am Rande der Siedlung sei ihm zum Beispiel niemand bekannt. Er kennt Freunde und Schwestern, die schon vor langer Zeit die Siedlung verlassen haben, und genauso kennt er Verwandte, die geblieben sind.

Sicher ist: Die Siedlung Ludwigsfeld wird sich weiterentwickeln, Investoren wollen zum Beispiel die Brachfläche östlich der Siedlung bebauen. Nimgir Bemejew ist allerdings zuversichtlich, dass die Siedlung ihren besonderen Charakter und sozialen Zusammenhalt nicht verlieren wird: "Ich glaube, dass der Kern bestehen bleibt. Ich selber habe zwei Töchter, die haben ihren Freundeskreis mit Kindern von der alten Siedlung, und meine Neffen auch."

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Quelle:
SZ vom 04.02.2019
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