Unfallserie am Bahnsteig:Wenn Leben gegen Geld aufgewogen wird

Simon wurde vor einem Monat in München von einer U-Bahn überrollt. Seine Freunde rätseln seitdem über die Ursache und fragen, ob die Verkehrsbetriebe mehr für die Sicherheit am Bahnsteig tun könnten. Zu teuer, sagen diese. Doch wie viel ist ein Menschenleben wert?

Bernd Kastner

Sie haben sich den Film nicht angeschaut. Sie trauen sich nicht, die Eltern und die Schwester nicht, und auch die Freunde nicht, weil sie diese Bilder nie mehr aus dem Kopf bekommen würden. So hat nur die Polizei die Aufnahmen vom 27. November aus dem U-Bahnhof Am Hart gesehen. Man erkennt darauf, das darf man annehmen, einen Menschen, der über den Bahnsteig geht, von der einen Seite zur anderen.

Unfallserie am Bahnsteig: Am 27. November um 6.30 Uhr morgens starb Simon. Sein Freund Uli (rechts) hatte ihn noch zum U-Bahnhof begleitet. Dass dort überall Kameras hängen, hält Susanne für problematisch: Die Menschen würden in der falschen Sicherheit gewogen, dass ihnen im Ernstfall jemand helfen könne.

Am 27. November um 6.30 Uhr morgens starb Simon. Sein Freund Uli (rechts) hatte ihn noch zum U-Bahnhof begleitet. Dass dort überall Kameras hängen, hält Susanne für problematisch: Die Menschen würden in der falschen Sicherheit gewogen, dass ihnen im Ernstfall jemand helfen könne.

(Foto: Stephan Rumpf)

Vermutlich ist er irgendwie geschwankt, ehe er nach unten fiel. Jedenfalls hat die Polizei am Mittag jenes Tages, es war der erste Advent, vermeldet, dass der Mann "offensichtlich stark alkoholisiert" gewesen sei. Deshalb sei er aufs Gleis gestürzt und bewusstlos liegengeblieben, drei bis vier Minuten lang. Es war gegen 6.30 Uhr am Morgen, niemand bemerkte den Sturz, niemand sonst war in der Station. Dann kam der Zug.

"Wir wissen auch nicht genau, was passiert ist", sagt Marta, die Schwester von Simon, der nur 24 Jahre alt geworden ist. Vielleicht ist er auf den Kopf gefallen, so unglücklich, dass er das Bewusstsein verlor und die Gefahr nicht bemerkte.

Marta, ihr Mann und die Freunde des Toten können nicht glauben, dass Simon so betrunken gewesen sein soll, dass er fast besinnungslos über den Bahnsteig torkelte.

Wie? Warum? Nichts bringt Simon zurück, aber die Fragen beschäftigen die Angehörigen. Und in der öffentlichen Diskussion spielen die Antworten und die Mutmaßungen eine Rolle, in der Debatte, ob man auch in München eine elektronische Gleisraumüberwachung an den U- und S-Bahnhöfen installieren soll. In Nürnberg etwa oder in Stockholm gibt es Warnsysteme, die Bahnen automatisch stoppen, wenn sich jemand im Gleis befindet.

Zu teuer, lautet das gewichtigste Gegenargument in München, die Fahrpreise würden enorm steigen. Und insgeheim denken wohl viele: Sind doch selber schuld, die Betrunkenen. Sollen sie halt weniger saufen, dann passiert ihnen nichts.

"Auch ein Betrunkener ist ein Mensch", sagt Marta. Auch jener 20-Jährige, der Mitte Dezember am Isartor auf die Schienen stürzte. Die S-Bahn trennte ihm beide Beine ab, der Mann starb Tage später. Dass in dieser Diskussion Leben gegen Geld aufgewogen wird, macht Marta sprachlos, es klingt zynisch für sie.

Und dann gibt es ja auch die Opfer, die gar nichts getrunken haben, wie jene junge blinde Frau, die 2009 an der Station Silberhornstraße die Lücke zwischen zwei U-Bahn-Waggons mit der Tür verwechselte. Auch sie stürzte auf die Gleise, die Notbremse wurde zu spät gezogen, der Zug überrollte sie.

Was geschah in Simons letzter Nacht?

Seine letzte Nacht hatte Simon mit Freunden verbracht, unter ihnen Uli. In einem Jugendzentrum in der Maxvorstadt waren sie, nach langer Zeit mal wieder, viele alte Kumpel haben sie dort getroffen. Simon war lustig wie immer. Überhaupt sei er ein lebensfroher, freundlicher Mensch gewesen, "er hat immer gelacht", sagt seine Schwester. Groß war er, "wie ein weicher Bär". Getanzt haben sie und, ja, auch getrunken, erzählt Uli, aber nicht übermäßig viel.

Als er und seine Freundin so gegen sechs Uhr morgens mit Simon zur U-Bahnstation Theresienstraße gingen, sei ihm am Freund nichts aufgefallen. Gewankt sei er nicht und klar bei Sinnen sei er gewesen. Auf dem Bahnsteig haben sie sich verabschiedet, und dort kam es zu einem verhängnisvollen Missverständnis, alle drei haben sich vertan. Simon ist in die falsche Bahn gestiegen, allein ist er in Richtung Feldmoching gefahren.

Vielleicht ist er eingeschlafen

Vielleicht, vermuten sie heute, ist er eingeschlafen im Zug, ist sechs Stationen später, Am Hart, aufgewacht, erschrocken, ausgestiegen und dann schlaftrunken über den Bahnsteig gewankt. Vielleicht hat auch einfach sein Kreislauf versagt. Fragen, auf die es keine Antworten mehr geben wird. Polizei und Staatsanwaltschaft haben auf eine Obduktion verzichtet und sogar auf eine Blutentnahme, Fremdverschulden lag ja nicht vor, für die Polizei war alles klar.

Susanne, eine Freundin Simons, sagt, die Kameras in den Bahnhöfen würden viele in falscher Sicherheit wiegen. Denn es sitzt ja niemand vor einem Bildschirm und beobachtet die Bahnsteige; die Aufnahmen dienen nur der nachträglichen Aufklärung von Überfällen und Unglücken. Warum gibt es in München noch keine Gleis-Kontrolle? Müsste es denn gleich die teuerste Lösung sein?

Das fragen sich Simons Freunde. Und wenn sich das Für und Wider schon ums Geld drehe: Was ist mit den Kosten für jene Zugführer, die einen Menschen überfahren, hinterher traumatisiert und arbeitsunfähig sind? Denn auch dies vermeldete die Polizei am 27. November: "Der U-Bahnfahrer erlitt einen Schock."

Hinter der Debatte über Technik und Geld, hinter der Kosten-Nutzen-Analyse verbergen sich Menschen. Menschen, die vielleicht einmal zu viel getrunken haben. Oder ihrem Blindenstock vertraut haben. Wie sehr soll die Allgemeinheit den einzelnen schützen? Wie viel ist ein Menschenleben wert?

Simon wurde in seiner Heimatstadt beerdigt, fünf Stunden dauert die Autofahrt dorthin, und trotzdem sind viele Freunde aus München gekommen. Die Schwester erzählt von ihren Eltern, die ihren Lebensmut verloren haben, oft nur dasitzen und weinen. Die Schwester ist in Gedanken bei ihm; als sie Weihnachtsgeschenke besorgt und die für die Eltern schon hat, denkt sie: Jetzt brauch ich nur noch welche für Simon. Er war mehr als ihr Bruder, "wir waren gute Freunde". (Alle Namen geändert.)

Lesen Sie weitere Artikel zu diesem Thema im Lokalteil der SZ von Donnerstag, z.B. Auf welche Techniken Metropolen weltweit setzen.

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