Süddeutsche Zeitung

Shopping Kolumne:Gerahmte Einsicht

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Vor vielen Jahren wurden in den Metropolen dieser Welt die Nerdbrillen schick, Lichtjahre später trägt sie auch jeder Münchner. Der Versuch diesem Einheitslook zu entkommen, ist schwieriger als man denkt.

Beate Wild

Vor kurzem war es mal wieder so weit: Eine neue Sehhilfe war fällig. Freunde empfahlen einen trendigen Optiker in der Leopoldstraße. Beim Betreten des Geschäfts wurden dann auch gleich die schlimmsten Befürchtungen wahr. Es scheint nur noch ein Modell zu geben: die Nerdbrille. In sämtlichen Regalen des Ladens dominierten die Streberbrillen mit dem dicken schwarzen Rahmen. Früher hätte man diese Modelle abschätzig als Kassengestelle abgetan, heutzutage gelten sie als modisch und kosten das Zehnfache.

Man trifft diese Art von Brillen in sämtlichen Bars, Biergärten und Büros dieser Stadt. Vor fünf Jahren waren US-Schauspieler wie Johnny Depp, Demi Moore und Scarlett Johannson die Ersten, die ,,geek glasses'' trugen und sie so zum absolut notwendigen Hipster-Accessoire machten.

Doch Urvater der überdimensionierten Hornbrillen ist eigentlich kein Geringerer als Woody Allen. Seit 50 Jahren setzt der Regisseur auf die Streberbrille und hat sich damit ein gewisses Image erarbeitet. Er gelte als intellektuell, nur weil er diese Brille trage, sagt der Amerikaner selbst über sich. Myriaden Jahre später hat der Trend mit den fetten Brillengestellen auch in München eingeschlagen wie eine Bombe.

In dem hippen Brillenladen in der Leopoldstraße probiert man dann unter Anweisung einer äußerst engagierten Verkäuferin zahlreiche Modelle in allen Größen und Varianten, immer noch in der Hoffnung, dem Münchner Einheitslook zu entkommen. Am Ende wählt man ein Gestell, von dem man überzeugt ist, es so noch nie an einem Münchner oder einer Münchnerin gesehen zu haben.

Doch als man die neue Brille ein paar Tage später zum ersten Mal ausführt, wird man von den Freunden schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ob man jetzt auch unter die Nerds gegangen sei, hört man da prompt. Das Modell sei zwar eher Jean Paul Sartre als Woody Allen, da die Fassung oben schwarz und im unteren Bereich durchsichtig ist. Doch auch der junge Helmut Kohl habe schon genau so ein Gestell besessen.

Danke Freunde, selten so ein schönes Kompliment bekommen.

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