Sexuelle Gewalt:Wenn der Kampf kein Ende hat

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Emma Sulkowicz: Wochenlang schleppte die damalige Kunststudentin 2014 eine blaue Matratze über den Campus der Columbia University in New York und wurde dadurch weltberühmt. Auf so einer ähnlichen Matratze habe sie ein deutscher Kommilitone vergewaltigt, sagte sie. Der Name des Beschuldigten - der sowohl gerichtlich als auch bei einer Untersuchung der Universität für nicht schuldig befunden wurde - gelangte an die Öffentlichkeit, daraufhin wurde Sulkowicz der Vorwurf gemacht, sie wolle sich womöglich an ihm rächen. (Foto: AP)
  • Viele Opfer sexueller Gewalt empfinden die Befragungen bei der Polizei als Tortur und selbst nach dem Urteilsspruch bleibt die große Erleichterung oft aus.
  • Dennoch wollen Experten, dass möglichst viele Taten angezeigt werden.

Von Martin Bernstein und Elisa Britzelmeier

Ein Schuldspruch ist keine Heilung. Auch wenn ein Vergewaltiger ins Gefängnis muss, hinterlässt er seelische Wunden bei seinem Opfer. Jahr für Jahr sind Hunderte, Tausende Frauen davon betroffen. 1472 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung verzeichnete das Münchner Polizeipräsidium im vergangenen Jahr in Stadt und Landkreis, 281 Fälle mehr als im Vorjahr. Und das ist nur das "Hellfeld", jene Verbrechen, die auch zur Anzeige gebracht wurden: Neben Vergewaltigung und Nötigung sind das Straftaten wie exhibitionistische Handlungen, Zuhälterei oder der Besitz von Kinderpornos.

Man kann Gründe für diese Zunahme benennen: Das Sexualstrafrecht wurde im Herbst 2016 verändert, auch juristisch ist ein Nein seither ein Nein. Und viele Opfer werden durch die öffentliche Debatte ermutigt, die die MeToo-Bewegung angestoßen hat. Dennoch scheuen weiterhin viele betroffene Frauen den Gang zur Polizei. Experten schätzen, dass etwa die Hälfte aller Frauen in München nicht darüber sprechen, wenn sie Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Lediglich jede zehnte Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung wird angezeigt - und davon endet wiederum nur jedes elfte Verfahren mit der Verurteilung des Täters durch ein Gericht. Rechnet man die 243 bekannten Fälle von Vergewaltigung und Nötigung hoch, wären demnach in Wahrheit 2400 Münchnerinnen betroffen - allein im vergangenen Jahr. Und nur knapp zwei Dutzend Täter würden am Ende dafür bestraft werden.

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Es ist die Ausnahme, dass Fälle öffentlich bekannt werden. Was der heute 36-jährigen Nina F. widerfuhr, bewegt Tausende Menschen. Sie wurde vor sechs Jahren nach einem Clubbesuch in den Maximiliansanlagen vergewaltigt. Obwohl eine DNA-Spur vergangenes Jahr zu einem Tatverdächtigen führte, stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Mann, dessen Sperma in Nina F.s Körper gefunden wurde, ein. Fast 100 000 Menschen unterschrieben daraufhin eine, juristisch freilich bedeutungslose, Online-Petition, um Druck auf die Staatsanwaltschaft auszuüben. Und tatsächlich erklärte die Behörde schließlich, sie werde "ergänzenden Gesichtspunkten nachgehen". Eine Beschwerde des Anwalts von Nina F. liegt ebenfalls vor.

Die Münchner Staatsanwaltschaft gilt üblicherweise als konsequent bei der Verfolgung von Sexualdelikten. Dennoch sind sich die Strafverfolger ihrer Grenzen bewusst. Den eindeutigen Beweis zu liefern, kann schwierig sein, sagt Oberstaatsanwältin Veronika Grieser - vor allem dann, wenn Aussage gegen Aussage stehe. Ihr Behördenleiter Hans Kornprobst betont: "Ein schwieriger Nachweis kann nicht zur Absenkung rechtsstaatlicher Standards führen."

Auch wenn es zur Anklage kommt, ist damit noch lange kein Urteil gefällt. Und ein Urteil wiederum bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Täter ins Gefängnis muss. 90 Vergewaltiger wurden 2017 bayernweit schuldig gesprochen. Immer wieder gibt es Fälle, die in der Öffentlichkeit auf Unverständnis, manchmal auf blankes Entsetzen stoßen. Beispielsweise als Ende Januar 2019 ein Diakon aus München wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs einer 15-jährigen Ministrantin verurteilt wurde: Der Richter war zwar davon überzeugt, dass der Mann das Leben des Mädchens zerstört habe, dennoch durfte der 66-jährige Verurteilte das Strafjustizzentrum als freier Mann verlassen, wenn auch mit Auflagen.

Oder der Fall eines 70 Jahre alten Therapeuten, der eine Klientin an der Isar vergewaltigte und mit einer Bewährungsstrafe davonkam. Oder der Prozess gegen einen 42 Jahre alten Mann, der illegal als Taxifahrer arbeitete: Im Dezember wurde er zwar wegen Vergewaltigung eines weiblichen Fahrgasts zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt, musste die Strafe dann aber nicht absitzen, weil die Untersuchungshaft zu lang gedauert hatte.

Selbst wenn der Täter ins Gefängnis muss, sind viele Frauen nach dem Urteilsspruch erstaunt, dass die große Erleichterung ausbleibt, berichtet Jelena Stanilov. Sie arbeitet als Beraterin beim Frauennotruf und begleitet Opfer bei Prozessen. Es sei wichtig, betroffene Frauen frühzeitig über juristische Möglichkeiten aufzuklären. Man müsse mit den Opfern aber auch über ihre Erwartungen sprechen: "Was ist ihre Hoffnung an die Anzeige?", fragt Stanilov jede Frau, die bei ihr Hilfe sucht.

Maike Bublitz, die Geschäftsführerin des Frauennotrufs, sagt: "Wir wollen, dass möglichst viele Taten angezeigt werden." Die Entscheidung liege aber immer bei dem Opfer, die Helfer seien grundsätzlich "parteilich mit der Frau". Und es ist keine leichte Entscheidung. Die Befragungen durch die Polizei können für Opfer sexueller Gewalt zur Tortur werden, auch wenn die Beamten oder Beamtinnen vom Fachkommissariat 15 kommen, das sich ausschließlich um Sexualdelikte kümmert.

Wie man Befragungen möglichst "opferschonend" durchführt, darüber tauschen sich die Kriminalpolizisten auch mit den Expertinnen vom Frauennotruf aus. Doch Jelena Stanilov weiß: "Harte Fakten können nicht opferschonend sein." Denn die Polizei, erklärt Maike Bublitz, müsse auch nach Belegen fragen, die den Täter entlasten könnten. "Wenn die Polizei nicht nachfragt, macht es der gegnerische Anwalt in der Verhandlung", sagt Kriminalhauptkommissarin Andrea Kleim, Opferbeauftragte im Polizeipräsidium.

Wenn nach einer Anzeige die ganze Maschinerie der Behörden angelaufen ist, kann das auf Betroffene auch destabilisierend wirken. Arno Helfrich weiß das, der Kriminalrat leitet das Kommissariat für Prävention und Opferschutz im Polizeipräsidium an der Ettstraße. "Der Weg ist nicht einfach", sagt er. Besonders schwierig sei die Situation, wenn die Polizei an den Tatort einer Vergewaltigung gerufen werde. "Da ist auf einmal viel Polizei, die viel wissen will." Und Frauen, die eine Tat am liebsten möglichst schnell vergessen würden, müssten ständig darüber berichten. Oft erfährt die Polizei aber nicht sofort von der Tat, sondern erst auf Umwegen. Etwa wenn eine Frau am Telefon eine Geschichte erzählt, die angeblich einer Freundin widerfahren sei, und erfahrene Ermittler sofort wissen: Hier spricht gerade ein Vergewaltigungsopfer.

Nina F. hat damals, 2013, bei ihren beiden Vernehmungen schlimme Erfahrungen gemacht. Bei der Befragung sei zwar eine Polizistin dabei gewesen, die Fragen aber habe ihr männlicher Kollege gestellt. Als sie das Gefühl hatte, man glaube ihr nicht, als sie nach ihrem Hinweis auf mögliche K.o.-Tropfen gefragt worden sei: "Wie, Sie nehmen Drogen?" - da sei sie zusammengebrochen, berichtet sie heute. "Ich habe mich durch die Polizei mehr traumatisiert gefühlt als von der Tat", lautet sechs Jahre später ihr bitteres Fazit.

Seither habe sich vieles geändert, heißt es bei der Polizei. "Wenn möglich" führe eine Beamtin auf Wunsch der Betroffenen die Vernehmung durch. Sie weise Opfer auf mögliche "Stolpersteine" hin, sagt Hauptkommissarin Kleim. Und auf Hilfsangebote: auf die Beratung beim Frauennotruf, psychosoziale Prozessbegleitung, auf die Möglichkeit, im Verfahren nicht nur Zeugin, sondern auch Nebenklägerin zu sein. Sie wolle Frauen ermutigen, eine aktive Rolle zu spielen.

Es gibt ein Netzwerk, das Frauen auffangen soll, die Opfer einer sexuellen Gewalttat geworden sind. Die Ende März vorgestellte Broschüre der Stadt "Nein heißt Nein" ist 40 Seiten stark. Doch sind die Maschen dieses Netzwerks auch in jedem Fall tragfähig genug? Grüne und SPD haben im April unabhängig voneinander im Stadtrat beantragt, dass München eine Koordinierungsstelle für Vergewaltigungsopfer einrichten soll und "dass Vergewaltigungsopfer in den großen Münchner Akutkrankenhäusern schnell untersucht werden", wie die SPD schreibt. Die Beweissicherung müsse kostenlos sein, keinesfalls dürften Betroffene von einer Klinik zur anderen verwiesen werden.

Dass so etwas tatsächlich vorkommt, bestätigt Maike Bublitz vom Frauennotruf. Sie hält das für einen Skandal. Die Versorgungslücken müssten dringend geschlossen werden. Dazu müsste München das Rad nicht neu erfinden. In Niedersachsen und in Frankfurt gibt es funktionierende Vorbilder. Das Frankfurter Modell "Soforthilfe nach Vergewaltigung" stellt klar: Eine Vergewaltigung ist "kein Grund, sich zu schämen, sondern sich helfen zu lassen". Nur so, glaubt Maike Bublitz, könne man erreichen, dass in Zukunft mehr als nur jede zweite betroffene Frau Ansprechpartner findet, mit denen sie über das Erlittene reden kann.

Trotz zusätzlicher Qualen und Schwierigkeiten, trotz des unsicheren Ausgangs könne eine Anzeige "hilfreich bei der Bewältigung des Geschehens und eine Chance sein", heißt es in der städtischen Broschüre. "Das Ergebnis kann wichtig sein für den Heilungsprozess, muss es aber nicht", sagt Beraterin Jelena Stanilov. Ihr Rat an Frauen, die diesen Weg gehen: "Nutzen Sie das Gesetz, um Ihre Geschichte zu erzählen - unabhängig davon, was herauskommt." Auch Kriminalrat Helfrich glaubt an den "Mehrwert, den Staat hinter sich zu fühlen". Mit der Anzeige werde der Täter gezwungen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was er seinem Opfer angetan hat.

Und Nina F., deren Fall so viele Menschen bewegt? Dass sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist, bereut sie nicht, sagt sie. "Wenn es nur einer Frau hilft, ist es das wert." Nina F. ist am Tag nach der Tat zur Polizei gegangen. Sechs Jahre später kämpft sie noch immer dafür, dass es zum Prozess gegen ihren Vergewaltiger kommt. "Ich bin eine Bürgerin und möchte unser Rechtssystem in Anspruch nehmen", sagt sie. "Und ich finde, dass mir das zusteht."

© SZ vom 15.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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