Süddeutsche Zeitung

Sexuelle Übergriffe:Wenn der Bruder zum Täter wird

Missbrauch innerhalb der Familie wird selten angezeigt. Bei der Bewältigung brauchen Eltern dringend Hilfe von außen. Noch ist das Kinderschutzzentrum die einzige Anlaufstelle in München, aber das Hilfsangebot wird nun ausgebaut.

Von Kathrin Aldenhoff

Ein Junge, der sexuell übergriffig wird, der seine Schwester anfasst, gegen ihren Willen. Oft zu Hause, vielleicht sogar im Kinderzimmer. Es gibt diese Fälle, dieses Thema, das so ein großes Tabu ist, dass niemand darüber sprechen möchte. Beim Kinderschutzzentrum in München aber sprechen sie darüber. Mit den Jugendlichen, die übergriffig geworden sind. Mit denen, die betroffen sind. Und mit ihren Familien. "Wenn so etwas passiert, dann ist das ein Hinweis darauf, dass in dem Familiensystem etwas fehlt, was die Kinder brauchen", sagt Kirstin Dawin, die Leiterin des Kinderschutzzentrums.

Um so ein Problem zu lösen, brauchen Eltern Hilfe von außen. Das Kinderschutzzentrum ist die einzige Anlaufstelle in München für Jugendliche, die innerhalb der Familie sexuell übergriffig geworden sind. In den vergangenen fünf Jahren hätten sie insgesamt so viele Anfragen zu dem Thema gehabt, sagt Kirstin Dawin, dass sie nun zwei Therapiegruppen anbieten. Nicht nur, aber auch für Jugendliche, die Geschwister missbraucht haben. Aber auch zwei Gruppen reichen nicht: Immer wieder müssen sie Jugendliche abweisen.

Ziel der Gruppentherapie: eine gesunde Sexualität entwickeln

Seit 20 Jahren gibt es im Kinderschutzzentrum ein therapeutisches Angebot für sexuell übergriffige Jungen. "Das Ziel der Gruppentherapie ist, dass die Jugendlichen nicht mehr übergriffig werden und eine gesunde Sexualität entwickeln", sagt Christian Pröls. Er leitet eine der beiden Gruppen und bespricht mit den Jungen zum Beispiel, warum Pornos nichts mit der Realität zu tun haben, sondern eher so etwas wie Fantasyfilme sind.

Oft seien die übergriffigen Jugendlichen selbst in Außenseiterpositionen, hätten Mobbing-Erfahrungen gemacht, litten unter sozialen Ängsten. Ein Mädchen in ihrem Alter ansprechen? "Für viele ist diese Vorstellung völlig absurd", sagt Pröls. Nach etwa einem Jahr macht er mit den Jugendlichen eine Übung, die nicht allen leicht fällt: Sie sollen am Marienplatz eine Gleichaltrige ansprechen und sie nach dem Weg fragen.

Im Rahmen der Gruppentherapie müssen die Jungen immer wieder Schritt für Schritt erzählen, wie sie übergriffig wurden: Welche Fantasien hatten sie? Wie haben sie ihre Tat geplant? Wie sind sie vorgegangen? "Die Jugendlichen sollen verstehen, dass so etwas nicht einfach so passiert", sagt Christian Pröls. "Sondern dass sie sich aktiv dafür entschieden haben." Sie sollen Verantwortung für das übernehmen, was sie getan haben. Und dann nicht mehr rückfällig werden.

Wie viele solcher Fälle von Missbrauch es unter Geschwistern gibt, ist unklar. "Diese Taten passieren im Dunkelfeld, sie werden fast nie angezeigt", sagt Kirstin Dawin. Fälle innerhalb der Familie würden oft nur der Jugendhilfe bekannt. Fest steht aber: Der Anteil der jugendlichen Täter bei sexuellen Übergriffen auf Kinder wird unterschätzt. Auch und besonders in der Geschwister-Konstellation, sagt Dawin. "Wir erleben hier einen stetig steigenden Beratungsbedarf."

Die Stadt fördert ein neues Angebot für Jungen unter 14 Jahren

Das Thema gewinnt an Bedeutung; mit dem Kinderschutz München - ein ähnlicher Name, aber ein anderer Verein - baut nun ein weiterer Träger in München ein Angebot für sexuell grenzverletzende Jungen auf, für Kinder im Alter von bis zu 14 Jahren. In vielen Fällen seien diese zuvor selbst Opfer sexuellen Missbrauchs geworden, heißt es in einer Vorlage für den Kinder- und Jugendhilfeausschuss. Im Dezember hatte der die Förderung des Kinderschutzangebots beschlossen, rund 200 000 Euro gibt die Stadt von 2023 an jährlich dafür aus.

Wegen des gestiegenen Bedarfs fordert auch Kirstin Dawin vom Kinderschutzzentrum von der Münchner Politik mehr Personal und einen zusätzlichen Gruppenraum an einem anderen Ort für die Arbeit mit den übergriffigen Jugendlichen. Das ist wichtig, damit sich Täter und Opfer im Kinderschutzzentrum nicht begegnen.

"Die Arbeit mit Tätern ist der beste Opferschutz im Sinne des Kinderschutzes", sagt Dawin. Neben dieser Arbeit mit den Tätern ist auch die Arbeit mit den Betroffenen und der ganzen Familie wichtig. Die muss dafür sorgen, dass das betroffene Kind in Sicherheit ist, dass es vor den Übergriffen des älteren Bruders geschützt ist. Und lernen, wie ein familiäres Klima geschaffen werden kann, in dem so etwas nicht mehr geschieht. Ein Klima, in dem Kinder sich ihren Eltern anvertrauen, wenn sie ein Problem haben. Wo Platz ist für Gefühle.

Therapeut Christian Pröls schildert einen Fall, wie er sich ähnlich zugetragen hat. Ein Junge, zwölf Jahre alt, hat angefangen, auf seinem Handy Pornos zu gucken. Er wollte wissen, wie sich das im echten Leben anfühlt, glaubte aber, bei Gleichaltrigen keine Chance zu haben. Der Junge versuchte es bei seiner neun Jahre alten Schwester. Er überredete sie, ihre Scheide anfassen zu dürfen, als die Eltern gerade nicht da waren. Zweimal tat er das, dann vertraute sich das Mädchen den Eltern an, sagte ihnen, dass sie das nicht will. Die Eltern hätten gut reagiert und eine klare Grenze gezogen, erzählt Pröls. "Die Familie war gesund und dieses klare ,Stopp' hat seine Wirkung entfaltet."

Unterbleibt so etwas, könne solch ein Missbrauch über lange Zeit andauern, auch über Jahre hinweg, sagt Kirstin Dawin. Denn solche Taten seien niemals Ausrutscher.

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