Süddeutsche Zeitung

Sendling:Oberammergau am Harras

Lesezeit: 3 min

Die Sendlinger Stadtteilwoche eröffnet weitreichende Perspektiven. Einem Theatermacher schwebt eine Art Passionsspiel zur Sendlinger Mordnacht vor, der Verein Kunst in Sendling will "Art in the Park" etablieren

Von Birgit Lotze, Sendling

Quasi perfekt hat die Sendlinger Stadtteilwoche begonnen: Bei strahlendem Sonnenschein war am Freitag schon zur Auftaktveranstaltung mit Helmut Schleich das Zirkuszelt mit 600 Besuchern ausgebucht, ebenso auch der Saal der Himmelfahrtskirche bei der bejubelten Aufführung des Klapptheaters am Samstag. Zur ersten Führung um 9 Uhr morgens zu Sendlings verborgenen Orten kamen mehr als 30 Menschen. Besonders gut angenommen wurde der Neuhofener Platz. Den Park bezeichneten viele Besucher als ideale neue Festival-Location.

Der Harras leuchtet

So häufig, wie am Freitagabend, ist der Harras wohl noch nie fotografiert worden. Der Platz zeigte sich von seiner besten Seite. Drei der schönsten Jugendstilfassaden wurden illuminiert, der Brunnen strahlte in buntem Licht - erleuchtet von Profis, die sonst den Königsplatz illuminieren oder den Justizpalast. "Am besten wäre, das bliebe jetzt so", sagte ein älterer Sendlinger. Kinder tanzten im Brunnen zur Musik, andere vor der Leinwand, auf die die Fotografin Katrin Hupe Fotos von weggeworfenen Dingen in Algeriens Wüste zeigte. Hupe und der Designer Pancho Ballweg, die sich das Konzept für die Illumination ausgedacht haben, haben den Platz seit Jahren von zwei gegenüberliegenden Seiten im Blick: Sie arbeiten und wohnen am Harras.

Wie die Zeit vergeht

Stefan Casparis Bild-Chronologie ist ein viel besuchtes Projekt der Stadtteiltage. Caspari hat Sendlinger vor 20 Jahren fotografiert und sie kürzlich wieder vor die Kamera geholt. Die Ausstellung ist vom Gehsteig der Plinganser Straße aus zu besichtigen in Schaufenstern zwischen Lindenschmit-straße und Harras. Schon aus Neugier muss man hier angeblich vorbei. Dabei interessiert nicht nur der künstlerische Aspekt. "Irgendjemand kennt man immer", sagt ein Anfang-Zwanzigjähriger. Wie sein Hausnachbar früher mit "Matte" aussah, amüsiert ihn.

Traditionen pflegen

Der Trachtenverein Schmied von Kochel München-Sendling zeigte nicht nur zur Musik der Ziehharmonika ein breites Repertoire an Tänzen, die Trachtler brachten den Festbesuchern auch geduldig das Tanzen, Löffeln und Platteln bei. Beim Schnellkurs im Schuhplatteln waren Frauen nicht zugelassen. Das sei ein Werbetanz, dafür seien die Männer zuständig, hieß es. Dafür bekamen die Frauen einiges zu sehen. "Jetzt hams bloß zwoa Füaß, selbst die bringans noch laufend durchanand", kommentierte eine Zuschauerin.

Papiertheater

Tausende Papierteller wurden an einem überlangen Tisch am Harras beschriftet. Passanten sollten aufschreiben, was ihnen unbezahlbar ist. In Sendling lag dabei die Familie weit vorne. Johannes Volkmann, der das Projekt entwickelt hat, hat Erfahrungen aus vielen Ländern. Er sagt, die Beschriftung spiegele Wünsche wieder, einen Mangel. In Deutschland liege meist der Fokus auf der Zeit, auf "zu sich kommen". In Palästina war die Bewegungsfreiheit Thema, in Mumbai der Wunsch nach Grün und frischer Luft.

Das Klohäuschen auf Reisen

Das Klohäuschen am Eingang der Großmarkthalle ist bekanntermaßen ein ganz spezielles. Alle Künstler, die dort auftreten, müssen mit dem Klohäuschen zusammen arbeiten. Diesmal war die Bühnenbildnerin Manuela Müller mit dem Klohäuschen auf Reisen, mitgebracht haben sie Fotos vom See, Fotos aus den Bergen. Offenbar war das Klohäuschen vom Herumreisen müde, jedenfalls ließ sich der Zelt-Nachbau trotz beinaher Windstille nicht auf der Wiese im Neuhofener Platz aufbauen. Wer das Klohäuschen sehen wollte, musste sich zum Original vor der Großmarkthalle begeben. Dort gab es gute Live-Musik und DJ-Sound von 9 Volt.

Passionsspiel

Der Schwabinger Puppentheatermacher Gerhard Weiß hat sich jahrelang in die Historie der Sendlinger Bauernschlacht von 1705 vertieft. Er hat zum Festival auf den Neuhofener Platz Teile des Bühnenbildes, Figuren und Kulissen seines Theaters I-piccoli von der Aufführung der "Sendlinger Mordnacht" zum 300-sten Jahrestag im Stemmerhof mitgebracht. Dort sucht er Mitspieler und Techniker, die die Aufführung in Sendling etablieren. Eine Art "Passionsspiel" schwebt Weiss vor. Denn die Mordsweihnacht in Sendling habe damals ganz Europa erschüttert.

Kunst in Sendling

Der erst kürzlich gegründete Verein hat einen eigenen Ausstellungswagen auf dem Festgelände, in dem sich die Künstler präsentieren. In einem Workshop-Zelt kann man ihre Techniken selbst ausprobieren. Am Sonntag ging es ans Experimentieren mit Transfer-Lithografien mit Berit Opelt, am Samstag machte Brigitte Yoshiko Pruchnow von den Munich Artists einen Schablonen-Workshop. Minimalisten unter den Besuchern schafften kleine Kunstwerke in zwei bis zehn Minuten.

Art in the Park

Die US-Amerikanerin Emmy Horstkamp, inzwischen Sendlingerin, will eines der Traditionen aus ihrer Heimat in München etablieren: Künstler präsentieren sich in Parks oder auf Straßenzügen, machen die Besucher in Workshops mit ihren Arbeiten und Methoden bekannt. In Sendling probiert sie das Konzept mit ihrem Verein Kunst in Sendling nun aus. Klappt es auf dem Neuhofener Platz, dann vielleicht auch bald im Englischen Garten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2520958
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.06.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.