Süddeutsche Zeitung

Seminar in der Oberstufe:Oberwasser

Viele Mädchen und Buben können nicht richtig schwimmen - am Asam-Gymnasium hatte eine Lehrerin nun die Idee für ein ungewöhnliches Projekt: Fünftklässer bekommen dort im Unterricht Hilfestellung von Schülern aus der elften Klasse

Von Melanie Staudinger

Ängstlich blickt My nach oben und klammert sich am Beckenrand fest. Nein, ins tiefe Wasser wolle sie nicht, sagt die Fünftklässlerin und schüttelt energisch den Kopf. Neben ihr steht Sandra aus der elften Klasse, das Wasser reicht ihr an die Brust. "Trau dich, du kannst es", sagt die Jugendliche zu ihrem kleinen Schützling. Von draußen spricht Sportlehrerin Stefanie Hummel aufmunternde Worte, doch My bleibt hart, der ganzen Aufmerksamkeit zum Trotz. Erst als es eine Schwimmnudel bekommt, wagt sich das Mädchen aus dem Nichtschwimmerbereich. Und siehe da: My kann schon richtig gut schwimmen, nur der Mut fehlt noch ein wenig. Eine Eins-zu-eins-Betreuung beim Schwimmunterricht aber ist sehr selten in Münchner Bädern.

My ist eine von fast zwei Dutzend Fünfklässlern des Asam-Gymnasiums, die zu Beginn des Schuljahres nicht schwimmen konnte. Die Gründe sind ebenso vielfältig wie bekannt: Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund erhalten überproportional häufig keinen Schwimmunterricht. Die Familien gehen nicht ins Hallen- oder Freibad, und an den Grundschulen fehlen nicht nur Sportlehrer, sondern oft auch Schulschwimmbäder. Die sind oft so weit von der Schule entfernt, dass nicht einmal eine halbe Stunde zum Schwimmenlernen bleibt. Das Asam-Gymnasium aber geht einen neuen Weg, um das Problem der vielen Nichtschwimmer zu bekämpfen: Dort unterrichten ältere Schüler die jüngeren.

Sportlehrerin Hummel leitet das P-Seminar, an dem Oberstufenschüler aus der elften und zwölften Klasse teilnehmen. P-Seminar, das bedeutet Projekt-Seminar zur Studien- und Berufsorientierung. Die Jugendlichen sollen hier lernen, wie sie Projekte planen, steuern und umsetzen - und sich gleichzeitig auch Gedanken machen, was ihnen später für ihr Berufsleben so vorschwebt. Bei der Themenwahl sind die Schulen relativ frei. Manche beschäftigen sich mit antiker Mode, mit der Geschichte ihres Viertels oder mit speziellen physikalischen Phänomenen.

Gäbe es ein P-Seminar Schwimmen, so dachte sich Lehrerin Hummel, würden sowohl die älteren als auch die jüngeren Schüler profitieren. Wenn sie alleine mit Kindern schwimmen geht, gilt eine eiserne Regel: Ist die Lehrerin im Wasser, müssen die Kinder draußen sein und umgekehrt. Eine richtige Betreuung beim Üben ist so unmöglich. Hätte die Lehrkraft aber Helfer, könnten diese im Becken mit den Kindern schwimmen. Dumm nur, dass im Stellenplan keine solche Kraft vorgesehen ist. Würden aber ältere Jugendliche diesen Job übernehmen, kostete das keinen Euro extra, kalkulierte Hummel.

Der Plan ging auf. Schulleiter Peter Heinz Rothmann genehmigte das Seminar und baute es so in den Stundenplan ein, dass sowohl die elften als auch die fünften Klassen Zeit haben und auch die Lehrerin und das nahe Schwimmbad im Anton-Fingerle-Zentrum zur Verfügung stehen. Es meldeten sich mehr als genügend Helfer, das Angebot konnte starten. "Obwohl der Kurs viel Arbeit ist, sind unsere Mitschüler eher neidisch, dass sie keinen Platz haben", sagt Elftklässler Stefan. Und Michael fügt hinzu: "Für mich war das eine super Gelegenheit. Ich mag Wasser und Schwimmen, aber für Sportschwimmen bin ich nicht schnell genug."

Doch einfach Babysitten gehen die Gymnasiasten nicht. Für jede Stunde erarbeiten die Elfklässler ein Konzept. Aufwärmspiel, Schwimmübungen, Aufsicht - alles will vorher geklärt sein. An diesem Tag beginnt Charlotte mit einem Spiel, dem Atomspiel. Wenn sie "Fünf" ruft, müssen sich fünf Kinder im Wasser zusammenfinden, gehend, rudernd, schwimmend - Hauptsache schnell. Während Charlotte die Kommandos gibt, passen ihre Klassenkameraden auf - niemand soll unbemerkt untergehen. Dann geht es ans Einschwimmen, und spätestens hier zeigt sich, welche Fortschritte die Fünftklässler seit September gemacht haben. Die Querbahn schaffen fast alle ohne Hilfe, viele schwimmen schon im tiefen Wasser. "Am Anfang haben sich manche nicht mal hineingetraut", sagt Hummel. Gemeinsam mit den Schülern hat sie das Ziel des Kurses umdefiniert: Die Kleinen sollen das Schwimmabzeichen in Bronze machen.

Die älteren Schüler wissen, wie wichtig das ist, nicht nur, damit man später in einer brenzligen Situation nicht ertrinkt. "Wir treffen uns oft zum Baden in der Freizeit, da ist es schon blöd, wenn einer nicht schwimmen kann", sagt Elfklässler Matti. Das Klima im Obergiesinger Asam-Gymnasium profitiert von dem klassenübergreifenden Kurs. "Die Fünfklässler sind ja neu an unserer Schule. Sonst hätten wir nichts mit ihnen zu tun", sagt Charlotte. Doch in den vergangenen Monaten sind wertvolle Vertrauensbeziehungen gewachsen. Das sieht man beim Zuschauen sofort. Und selbst die schüchterne My traut sich mittlerweile, im Tiefen zu schwimmen.

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Quelle:
SZ vom 11.03.2017
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