Es hat so eine gewisse Alice-im-Wunderland-Verrücktheit. Das alte Schwere Reiter - dieser schöne, höchst charmante Theater- und Konzertraum im Kreativquartier - wurde nebenan noch einmal neu gebaut; und sieht genauso aus wie der alte. Wirklich genauso. Dieselben Proportionen, dieselben Dachstützen. Dieselben Formen, dieselbe Zuschauertribüne. Es riecht nur anders. Und die Farben, der Boden und die Wände sind weniger abgeblättert. Außerdem sind die Türen breiter, was sowohl für die Barrierefreiheit als auch für etwaige Flügel, die von einem Raum in den anderen geschoben werden müssen, ganz gut ist.
Das alte Schwere Reiter steht auch noch. L-förmig stehen Neu- und Altbau beieinander. Gut 3,5 Millionen hat der Neubau gekostet. Die Nutzung ist angelegt auf zehn Jahre. So lange soll er den alten Bau ersetzen. Der alte bleibt bestehen, eventuell kann er zwischengenutzt werden von anderen Künstlern, die auf dem Gelände arbeiten und deren Häuser renoviert werden müssen. Beispielsweise das Mucca. Aber eigentlich läuft die Nutzungsduldung für den Altbau im Oktober aus. Deshalb gibt es jetzt den Neubau, weil sich das Schwere Reiter seit 2008 zu einem Zentrum für zeitgenössische darstellende Kunst entwickelt hat, auf das man nicht mehr verzichten möchte. Die Stadt entschied sich für einen Neubau, nachdem die Renovierung der alten Halle mit um die 80 Prozent der Kosten für einen Neubau veranschlagt wurde. Das wären aber trotzdem noch 20 Prozent weniger gewesen. Und warum baut man eine neue Halle, deren Laufzeit dann doch wieder beschränkt ist? So ganz erschließt sich einem dieses Prozedere nicht. Aber das ist ja allgemein ein Problem auf dem Gelände. Die Stadt, das Kulturreferat und jetzt auch die neuen Verwalter - Münchner Gewerbehof- und Technologiezentrumsgesellschaft (MGH) - sind stolz auf das, was künstlerisch auf dem Gelände passiert; sie können es aber aus irgendwelchen Gründen auch nicht einfach so lassen, wie es ist, und die Künstler dort machen lassen. Denn dort haben sich - ganz ohne städtebauliche Intervention - über die vergangenen Jahre ziemlich tolle Sachen entwickelt.
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Vielleicht muss man dieses Paradoxon aber auch einfach so stehen lassen. Und sich einmal anschauen, was da nun neu entstanden ist. Denn das ist eigentlich ziemlich schön. Von Außen wirkt die neue Halle martialisch. Das Architekturbüro Mahlknecht Herrle hat als Außenfassade sogenannte Spundwände gewählt. Riesige gewellte rostige Stahlplatten sind das, die eigentlich im Hafenbau oder zur Absicherung von Baugruben benutzt werden. Diese ragen nun hoch auf der ehemals freien Fläche hinaus. Über dem Eingang noch höher, es sieht aus als hebe sich ein eiserner, Pardon, stählerner Vorhang.
Geht man rein, erlebt man schon wieder eine Lewis-Carroll-verdächtige Verrücktheit: Der erste Eindruck dreht sich komplett um. Drinnen wirkt alles licht, hell, das Foyer mit Bar empfängt einen wie in einem modernen Büro, aber höher, freier, atmender. Die Gehweg-Platten von draußen ziehen sich ins Gebäude. Industriecharme trifft auf Postmoderne. Dann kommt die Halle, die so aussieht wie die alte in neu. Und dann folgt noch weiteres: Es gibt jetzt einen zweiten Raum hinter dem ersten - ein Studio. Als Probenraum nutzbar oder auch für kleinere Veranstaltungen. Es gibt sogar einen eigenen Eingang dafür. Dahinter dann die Büros, die Umkleiden. Und: Toiletten und Duschen für die Künstler, vom Zuschauerbereich abgetrennt.
Früher konnte es passieren, dass man die Künstler auf der Toilette traf
Ja, das war die andere Seite des abgewrackten Charmes, den das alte Schwere Reiter hatte. Publikum und Künstler teilten sich dort die Sanitärbereiche. Duschen tut ein Zuschauer zwar eher selten im Theater, Toiletten aber sind hoch frequentiert. Das brachte einen häufig in die etwas unangenehme Situation, den Künstlern, die man eigentlich auf der Bühne sehen wollte, beim Händewaschen zu begegnen. Dass das manchen Künstlern noch unangenehmer gewesen sein durfte als dem Publikum, kann man sich denken.
"Sind die Duschen nicht toll", sagt also Judith Huber, die mit dem Pathos im Schwere Reiter für die Sparte Theater zuständig ist. Ja, die Duschen sind schön - mit kleinen rot-braunen Kacheln. "Man muss sich nicht mehr entschuldigen, wenn man Gruppen oder Kompanien, die zu Gast sind, die Räumlichkeiten zeigt", sagt Huber. Die geteilten Sanitätsräume im alten Bau wirkten eher wie in einem besetzten Haus.
Auch unter dem Sichtbaren bietet der neue Bau einige schöne Sachen. Man habe auf Nachhaltigkeit geachtet, sagt Architekt Lukas Mahlknecht bei einer ersten Begehung. Die "Fachwerkträger", wie der korrekte Begriff für die Dachstützen heißt, seien aus Altstahl, also recycelt. Die Innenverkleidung ist aus Holz. Ausschließlich. Das kann zudem auch alles schnell wieder demontiert werden (soll ja nur zehn Jahre weilen) und wiederverwendet werden. Außerdem ist das Material robust. "Damit kann und soll gearbeitet werden", sagt Mahlknecht. Also ein Theater, das nicht auf seinen Bau achten, sondern ihn nutzen soll. Da können Sachen in die Wände geschraubt werden. Das darf leben.
In Rekordzeit wurde dieses Haus gebaut. Im Juli 2020 begannen die Arbeiten, am Freitag, 17., und Samstag, 18. September, wird nun mit einem wilden Programm aller Sparten eröffnet. Aber war es nicht seltsam, als Architekt die Aufgabe zu bekommen, einfach bitte genau das Gleiche noch einmal zu bauen, was nebenan schon steht? "Ja, klar", sagt Mahlknecht. Aber die Aufgabe sei auch schön gewesen. Dann gab es noch die Crux um die Akustik. Das alte Schwere Reiter wird von vielen Musikern dafür geliebt, dass es für Kammermusik grandios klingt. Transparent, aber nicht kühl. Man hört alle Instrumente - und noch mehr, man hört dazu einen Gesamtklang, ein räumliches Verschwimmen. Und das in einem beinahe perfekten Maß zur Transparenz. Etwas, das man in allen möglichen Konzerthaus-Neubauten versucht. Etwas, das selten so klappt.
Ein Akustiker sollte dafür sorgen, dass die neue Halle genauso klingt wie die alte
Ja, es gab einen Akustiker, erklärt Mahlknecht, der sie beraten habe, damit man auch die Akustik aus dem alten in den neuen Raum transferieren könne. Die Lösung: "Macht alles genauso wie im alten Raum", habe der Akustiker Mahlknecht geraten. Also proportionsgleich mit denselben Materialien.
Bis Ende Oktober darf das alte Schwere Reiter noch bespielt werden. Da kann man dann selbst vergleichen, wie sich das Neue zum Alten verhält. Hin und her wandeln. Raumspiegelungen erleben. Und dann? "Vielleicht können wir das Alte auch als Probebühne nutzen", sagt Sprecherin Simone Lutz. Eine baugleiche Probebühne. So etwas haben sonst nur Staatstheater. Wie toll, was für ein Luxus für die freie Szene.
Neues Schwere Reiter, Eröffnungswochenende Freitag, 17., bis Samstag, 18. September, Infos unter www.schwerereiter.de