Süddeutsche Zeitung

Schwabing:Zwischen Mathe und Geo zum Lötkolben greifen

In der Schwabinger Rudolf-Steiner-Schule ist Reparieren ein Unterrichtsfach. Die Klassen haben mit wissenschaftlicher Begleitung und tatkräftiger Unterstützung einen Leitfaden für praktisches Lernen entwickelt

Von Jana Sauer, Schwabing

Wer in der Reparaturwerkstatt der Schwabinger Rudolf-Steiner-Schule steht und sehr genau hinhört, der kann ein ganz leises Murmeln hören. Ein Bügeleisen flüstert hier, eine Kaffeemaschine und ein Ventilator berichten, wo es wehtut. So zumindest stellt man sich die Kommunikation vor, wenn Jeremias Meyer sie beschreibt. Der 19-Jährige ist in der Abiturvorbereitung und hatte bis vor Kurzem Unterricht in der Reparaturwerkstatt. Schüler von der fünften bis zur elften Klasse reparieren hier in einem regulären Unterrichtsfach selbständig defekte Elektrogeräte, Fachleute stehen ihnen dabei zur Seite.

Der Abiturient beschreibt den Reparaturprozess folgendermaßen: "Man guckt sich ein Gerät an, manchmal schüttelt man es auch. Ist ein Teil lose, klappert es und muss gelötet werden." Auch die Hintergründe von industrieller Produktion hat er so besser verstanden: "Viele Geräte lassen sich nur schwer öffnen, weil das vom Hersteller nicht gewollt ist. Er will, dass sie schnell durch neue ersetzt werden." Habe man es endlich geschafft, das Teil zu öffnen, "hat man schon viel darüber gelernt". Auf eine erfolgreiche Reparatur-Quote von 90 Prozent kommt die Schule, dafür ist viel Erfindungsreichtum gefragt.

Ist ein Ersatzteil nötig, das im Handel nicht mehr vorrätig ist, hilft manchmal ein Anruf beim Hersteller. Eine Firma war so begeistert vom bisher einzigartigen Engagement der Münchner, dass sie ein benötigtes Stück kostenfrei zur Verfügung stellte. Ist das Teil nicht mehr erhältlich, wird womöglich ein defektes Gerät ersteigert, aus dem Komponenten entnommen werden können. Über entstehende Kosten informieren die jungen Tüftler ihre Kunden selbst, die Reparatur ist kostenfrei. Kunde kann jeder werden, der mittwochs zwischen 15 und 16 Uhr ein kaputtes Gerät in der Schule abliefert. Wenn alle Stricke reißen, recyceln die Schüler Werkstoffe, indem sie diese mit Fantasie zweckentfremden, oder stellen Materialien mit dem hauseigenen 3-D-Drucker selbst her. Finanziert hat die Schule die Anschaffung durch Preisgelder, die ihre Reparaturwerkstatt in Wettbewerben gewann. Weil das Konzept so gut funktioniert, erscheint jetzt ein Praxisleitfaden, der anderen Schulen eine Adaption des Projekts erleichtern soll.

Jeremias Meyer hat einmal ein medizinisches Gerät, das einer schwerkranken Kundin gehörte, innerhalb von einer Stunde wieder zum Laufen gebracht. Sie brauchte es sofort, also griff er "zwischen Mathe und Geo" schnell zum Lötkolben. Ein tolles Gefühl sei das gewesen, erzählt er, weil er gewusst habe, wie wichtig seine Arbeit sei. Das macht Walter Kraus stolz. Der Physiklehrer kann als Werkstattleiter das tun, was er über Bauen und Tüfteln hinaus als seine wichtigste Aufgabe betrachtet: "Ich will meine Schüler so vorbereiten, dass sie, wenn sie die Schule verlassen, allen Herausforderungen der Zukunft gewachsen sind." Damit meint der gelernte Elektroniker durchaus nicht nur arbeitsmarkttechnische Qualifikationen, sondern so etwas wie ein Diplom im Umgang mit einer sich verändernden Welt. Ressourcenschonend sollen seine Schützlinge leben, die Energiewende vorantreiben und die Digitalisierung für den Umweltschutz nutzen.

Und das scheint sich auszuzahlen: Zwei ehemalige Schüler von Kraus haben kürzlich ein Elektroauto entwickelt, welches so gut konstruiert sei, dass ein Autokonzern angeblich vergeblich versucht habe, die Rechte dafür zu kaufen. Einen sinnvollen Umgang mit der Digitalisierung wünscht sich Reparaturanleiter Eberhard Escales. Er begleitet die Bastler und assistiert nur, wenn sie um Hilfe bitten. "Wir wollen unsere Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen, das Internet gezielt als Informationsquelle zu nutzen und sich nicht in Spielereien zu verlieren,"erklärt der Maschinenbau-Ingenieur im Ruhestand. Wie alle Beteiligten arbeitet er ehrenamtlich, seit das Projekt im April 2016 an den Start ging.

Wissenschaftlerin Claudia Munz begleitete die Methodenentwicklung pädagogisch und dokumentiert sie. Davon profitieren künftige Nutzer des Leitfadens, der ein Konzept für Stoffvermittlung vorschlägt und sich an den Prinzipien von erfahrungsgeleitetem und entdeckendem Lernen orientiert. Jeremias Meyer ist ein bisschen neidisch, dass er nicht mehr dabei ist: "Hier gibt es so viel tolles neues Werkzeug, das ich ausprobieren möchte. Ich komme einfach nach dem Abi wieder her."

Leitfaden im Internet: www.schueler-reparaturwerkstatt.de. Projektvorstellung: Freitag, 23. November, ab 17 Uhr, Samstag, 24. November, 9 bis 12.15 Uhr, Steiner-Schule, Leopoldstraße 17.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2018
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