Süddeutsche Zeitung

Schwabing:Herzenssache

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Der Schwabinger Verein "Freunde Madagaskars" engagiert sich seit nunmehr 30 Jahren für benachteiligte Kinder auf der Insel im Indischen Ozean

Von Ellen Draxel, Schwabing

Diesen herrlichen Geruch, eine ungewöhnliche Mischung aus verschiedenen Hölzern und Feuchtigkeit, kann Anne Raab nicht genau beschreiben. Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Mann Erich in Madagaskar aus dem Flugzeug steigt, umfängt sie dieser frische Duft. Das war schon 1987 so, als die Schwabinger den Inselstaat vor der Ostküste Mosambiks im Indischen Ozean zum ersten Mal besuchten. Mindestens ebenso fasziniert die beiden von Anfang an die Warmherzigkeit der Menschen: "Sie sind so hilfsbereit, dankbar und herzlich." Für die Raabs ist Madagaskar, eines der ärmsten Länder der Welt, längst zur zweiten Heimat geworden. Seit fast dreißig Jahren betreiben sie Entwicklungshilfe in einer Stadt namens Belo sur Tsiribihina, einem Ort mit dreißig- bis vierzigtausend Einwohnern im abgelegenen Westen der Insel.

Erich Raab ist Vorsitzender des Vereins "Freunde Madagaskars" mit Sitz in Schwabing, der Verein kümmert sich um den Schulbesuch benachteiligter Kinder in Belo und unterhält dort ein kleines Bildungszentrum mit einer Bibliothek für Schüler und Lehrer. In den vergangenen 15 Jahren konnten mehr als 50 Kindern zu einem Schulabschluss machen - mindestens den Grundschulabschluss, die meisten Mittlere Reife. Einige Schüler haben sogar das Abitur geschafft und studieren.

Josef Klingshirn gehört zu den Gründern. Der Schwabinger Künstler war bereits zum dritten Mal in Madagaskar, als er 1993 nach einer mehrtägigen Flussfahrt im Einbaum und Baden mit Krokodilen in Belo ans Ufer ging. Die Schule war damals in einem völlig desolaten Zustand, Fledermäuse nisteten in den Dächern, überall regnete es durch. Der Direktor bat den Deutschen um Hilfe. "Wir haben dann unsere Münchner Freunde gefragt, wer mitmachen will . . .".

Heute hat der Verein 60 Mitglieder und 30 Paten. "Das Wichtigste, was die Schule anfangs brauchte, war Kreide", erinnert sich Erich Raab. Es gab nur Tafeln, Papier kannten die madagassischen Kinder nicht. Später sorgte der Verein für die Anschaffung von Büchern, Heften, Schreibmaterial, Sportgeräten und Bekleidung. Erst vor Kurzem wurden 170 Schulbänke mit Tischen für 510 Mädchen und Jungen geschreinert; bis dahin saßen alle 1200 Schüler auf dem Fußboden.

Das Engagement der Schwabinger ist groß, mit viel Herzblut versuchen sie, unterstützende Projekte in Belo anzustoßen. Sie bemühen sich um bessere Infrastruktur, um gesunde Ernährung - in Madagaskar ist jedes zweite Kind mangelernährt -, um bessere medizinische Versorgung. Oft allerdings machen die örtlichen Gegebenheiten und die fremde Kultur einen Strich durch die Rechnung. Der fehlende Strom zum Beispiel, denn das Stromnetz ist völlig überlastet und fällt permanent aus. Problematisch auch die Wasserversorgung: Die Insel steht an vierter Stelle in der Rangliste der Länder mit der schlechtesten Trinkwasserversorgung weltweit. Funktionieren die Wasserleitungen nicht, müssen weit entfernte, häufig verschmutzte Wasserlöcher aufgesucht werden.

Alena Dietl, die als Kind den von Anne Raab geleiteten Hort der Schwabinger Simmernschule besuchte und nach ihrem Abitur für ein dreimonatiges Praktikum nach Belo ging, erzählt, dass sie in Madagaskar mit einer Kelle duschte und ein Plumpsklo benutzte. "Vor ein paar Jahren dachten wir noch, die Schule braucht unbedingt eine Toilette", berichtet Anne Raab. Doch die Münchner hatten nicht mit den ungeschriebenen Gesetzen der Einheimischen gerechnet. Zweimal die selbe Stelle als Klo zu benutzen, ist in Madagaskar undenkbar - ein einmal besuchter Ort gilt als "Fady", als verbotene Zone. Abgelehnt wurde auch ein Ultraschallgerät für Vorsorgeuntersuchungen, das der Verein für eine Ärztin kaufte. Die Menschen in Belo setzen auf das Urteil ihres Schamanen.

"Vertrauen", betont Soziologe Erich Raab, "ist essenziell". Deshalb managt die Projekte seit 2000 ein Madagasse, der darauf achtet, mit dem Engagement der Schwabinger keine europäischen Muster zu implementieren. Adolphe Randriamampandry ist Gymnasiallehrer, studierte Mikrobiologe und absolvierte Aufbaustudiengänge in Entwicklungspolitik. "Adolphe", sagt Raab, "erklärt uns immer, dass wir nicht auffallen dürfen. Sonst erzeugen wir nur Neid und Missgunst".

Bei manchen Besuchen in den Anfangsjahren, rekapituliert der 72-Jährige heute, sei er sich vorgekommen wie bei einer Audienz: Alle 30 Lehrer der Schule standen vor ihm und äußerten ihre Wünsche. Der eine wollte eine Bohrmaschine, der nächste eine Säge. "Anfangs haben wir versucht, die Bitten zu erfüllen - bis wir merkten, dass alles verscherbelt wurde." Dabeiwollen die Münchner weder missionieren noch Geld verdienen, was den Einheimischen bisweilen merkwürdig vorkommt: "Als wir das erste Mal auf einem kahlen Hügel einen Baum pflanzten, glaubten einige, wir suchen Gold."

Madagaskar ist aufgrund jahrzehntelang verfehlter Politik eines der ärmsten Länder der Erde. Es gibt zwar einen demokratisch gewählten Präsidenten, der gegen die neopatrimonialen Strukturen ist, aber nichts ausrichtet. "Das Stammessystem ist dominant", erklärt Erich Raab, "die Leute gehen zur Wahl, weil sie ein T-Shirt geschenkt bekommen - nicht, weil sie demokratisch denken." Aufbrechen kann diesen Kreislauf, da sind sich alle einig, nur die Bildung.

Für die Raabs ist der Inselstaat ihre Leidenschaft, jeden Morgen liest Erich madagassische Zeitungen - trotzdem bleibt vieles unerklärlich. Das Land ist und bleibt ihr Abenteuer.

Der Verein Freunde Madagaskars trifft sich jeden ersten Sonntag im Monat von 19 Uhr an im Restaurant "Le Refuge", Neureutherstraße 8. Mehr Infos unter www.freunde-madagaskars.de.

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SZ vom 03.09.2016
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