Schwabing:Geschichten, die das Leben schreibt

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Aus aller Welt, eine Idee: Die Macher und Autoren der in Schwabing erscheinenden Zeitung "NeuLand" freuen sich über zunehmend viele Leser. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wenn Fremdes plötzlich bekannt erscheint und Zuversicht die Oberhand gewinnt: Die Autoren der Zeitung "NeuLand", allesamt Migranten aus aller Welt, berichten über ihre Erfahrungen in Deutschland, ihre alte Heimat und das Gefühl des Ankommens

Von Nicole Graner, Schwabing

James Tugume aus Uganda spricht langsam. Und leise. Manchmal hält er inne, sucht nach dem richtigen Wort. Aber man versteht ihn, man muss nur genau zuhören, wenn er erzählt, dass er eigentlich erst seit 19 Monaten in München lebt, weil seine Freundin Julia und seine dreijährige Tochter hier wohnen, und wenn er von seiner Muttersprache Rutooro spricht. Dafür ist sein Deutsch schon richtig gut. Und da ist Munkhjin Tsogt-Ludwig aus der Mongolei. Sie ist schon länger in Deutschland, vier Jahre. Und sie spricht gut. Richtig gut. "Als ich kam", sagt sie, "war mir Deutschland ganz fremd. Die Sprache. Jetzt kann ich meine Gefühle äußern." Warum und wie sie nach München gekommen ist - das ist eine Geschichte, die sie bis jetzt nur wenigen erzählt hat. Und Alejandra Gonsebatt aus Argentinien kam einst mit einem Koffer nach München. Wenn sie jetzt wieder wegziehen müsste, wären es ein paar Koffer mehr.

Worte. Die Sprache. Und der Wunsch, sich in jenem Land, das neue Heimat geworden ist, auszudrücken, die Geschichten ihrer Migration zu erzählen, aber auch von Erfahrungen im Alltag, Begegnungen, Sorgen, Ängsten - dieser Wunsch eint James, Munkhjin und Alejandra. Und die anderen Autoren, die für die Zeitung NeuLand Artikel schreiben. Eine Zeitung, die Sprachrohr sein will für "migrierte Mitmenschen", wie Initiatorin Susanne Brandl sagt. Keine Zeitung, die sich "auf den Flüchtling im Autor" stürzen möchte. Der Schwerpunkt liegt also, wenn es um Flüchtlinge geht, nicht auf dem derzeit viel benutzten Adjektiv "arm", sondern vielmehr auf den Worten selbstverantwortlich, selbstbewusst und "aktiv" - wie Munkhijn betont. "Das Schreiben hat mir geholfen, die deutsche Sprache zu lernen, aber auch mich mit mir und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen." Und sich endlich einmal frei zu schreiben, sich auf diese Weise Gehör zu verschaffen. "Am Anfang hatte ich einfach das Gefühl, dass sich nur wenige Menschen Zeit nehmen, uns zuzuhören", sagt Munkhijn.

Die erste Ausgabe von NeuLand kam Mitte 2016 heraus. Aus der Idee Susanne Brandls geboren, dass nicht nur über die Flüchtlinge geschrieben wird, sondern sie selbst ihre Geschichten erzählen. Nun ist bereits das dritte Heft in einer Auflage von 12 000 Exemplaren erschienen; geplant sind vier Ausgaben im Jahr. Alle drei Wochen ist Redaktionssitzung in der Seidlvilla. Hierarchien gibt es nicht. Zehn bis 15 Interessierte kommen regelmäßig.

Immer kommen vor allem neue Autoren dazu. Andere gehen wieder. Müssen gehen oder finden ein neues Zuhause. James Tugume, 30, hat den Schritt gewagt, einfach aufzuschreiben, was ihm in seiner neuen Heimat so alles passiert. "Der Dschungel ist hier" war sein erster Artikel überschrieben. In seiner Heimat, so schreibt James gibt es "Löwen, Schlangen, die in die Augenspucken, Straßendiebe, verrückten Verkehr, Malaria-Mücken, giftiges und verdrecktes Essen." Dort habe er gewusst, was gefährlich war und "nie hatte ich einen Unfall." In München schon. Da lief er in eine Glastür. Gefährlich waren plötzlich nicht die Malaria-Mücken, sondern elektrische Autos, die man nicht hörte, Menschen auf der Rolltreppe, rücksichtslose Fahrradfahrer. Und die U-Bahn. Weil sein Handy in den Schacht fiel, krabbelte er einfach hinunter, um es zu holen. Doch die U-Bahn kam. Und er konnte nicht so schnell auf den Bahnsteig springen. Eine Frau half ihm. Tugume schreibt: "Als ich in der U-Bahn saß, klopfte mein Herz und ich wusste, dass diese Frau mir mein Leben gerettet hatte." Andere schreiben von Missverständnissen, von neuen Perspektiven, andere bedanken sich. Wieder andere zeichnen.

Die Redakteure hören ihren Autoren sehr oft erst einmal nur zu. Lauschen den Geschichten ihrer Autoren und schreiben sie dann gemeinsam auf, übersetzen. Es ist eine gemeinsame Suche nach den richtigen Wörtern, der richtigen Sprache für jeden Einzelnen. Es geht um einen guten Anfang, einen guten Schluss und um Authentizität, nicht um sprachliche Perfektion, sondern, wie die gelernte Texterin Eva Treu sagt, "darum, dass sich die Autoren in der Geschichte wiederfinden. Wir wollen nichts glattbügeln." Es gehe, präzisiert sie, "um die Augenhöhe." Deswegen haben NeuLand-Autoren auch Verträge. "Auch das hat mein Selbstbewusstsein gefördert", sagt Munkhjin Tsogt-Ludwig.

Was hat sich seit der ersten Ausgabe verändert? Das neue Heft ist dicker, hat mehr Bilder und einen Kunst-Blog. Denn manchmal sagen Bilder mehr als viele Worte. "Die Bilder", sagt Alejandra Gonsebatt, "sollen Geschichten erzählen." Und die sollen auch weiterhin Schwerpunkt der Neuland-Zeitung bleiben. Vielleicht, so hofft Carolin Pollain, gewinnen Menschen, die gegenüber Migranten Angst und Skepsis verspüren, Vertrauen. "Und vielleicht", ergänzt Treu, "öffnen diese Geschichten auch unsere Augen, machen uns dankbarer." Zum Beispiel, wenn James Tugume mit einem Statement verblüfft: "Das Beste hier in Deutschland ist die Krankenversicherung." Ein Lob, das wohl nicht jeder Deutsche teilt. Tugume aber lacht, sein dunklen Augen blitzen: "Doch, so ist es. Ich fühle mich einfach sicher, dass ich, wenn ich krank werde, Hilfe bekomme." Keine Selbstverständlichkeit in Uganda.

NeuLand wird weiter von allen jenen erzählen, die in München eine neue Heimat finden. Die Zeitung ist eine Plattform für neu Gedachtes, Erzähltes, Gefühltes. Will Begegnungen fördern und nicht aufhören, für den Dialog der Kulturen zu plädieren. Sie möchte ein Spiegel sein der Zeitgeschichte. Denn, so sagt Eva Treu, "die Stimmung verändert sich und damit die Geschichten." Genau diesen Prozess will die Redaktion mitgehen.

Der größte Wunsch von Susanne Brandl aber, dass in absehbarer Zeit die migrierten Mitmenschen die Zeitung selbst leiten, wird wohl noch ein Traum bleiben. Noch, sagt sie, sei das alles ein großer Aufwand. Noch ist alles erst im Werden. Oder wie Tarek Alhafeez aus Syrien schreibt: "Beim (miteinander) Essen kann man Angst verlieren." Ein paar Essen müssen wohl noch gegessen werden, damit die Angst vor so einer Aufgabe weicht. Und ganz viele Geschichten müssen wohl noch geschrieben werden.

Die aktuelle Ausgabe von NeuLand liegt in der Seidl-Villa, in den Dependancen der Volkshochschule und Stadtbibliotheken oder in vielen anderen Kulturinstitutionen aus. Weitere Informationen gibt es unter www.neulandzeitung.com.

© SZ vom 29.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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