So sinnlich wie an diesem Sonntag im Corona-Winter wurden in München vermutlich noch nie Brezen verkauft. Sabine Eberling zieht ihr Shirt von der Schulter, lässt das entblößte Körperteil kreisen, streckt dann den Arm aus, weit nach vorne, ihrem Kunden entgegen. "Geht auf meine Kosten", sagt sie mit butterweichem Timbre in der Stimme. Für einen Augenblick schwebt in der Feierwerk-Funkstation im Domagkpark eine imaginäre Bäckertüte mit zwei imaginären Brezen in der Luft, die auch nach zwei Stunden Workshop "Improtheater - die Kunst des Unvorbereitetseins" noch nicht abgestanden ist, weil zwischendrin ausgiebig gelüftet wurde. Dann hat die Szene, die sich natürlich nur in der Zeit vor den jüngsten Corona-Beschränkungen so abspielen konnte, ihren Höhepunkt überschritten. Der Arm der Theaterpädagogin sinkt samt Tüte nach unten, die Spannung im Raum weicht einem langen, befreienden Lachen.
"Das ist hier eine Tankstelle für Herz und Hirn."
Und gelacht wird viel an diesem Vormittag. Fast wirkt es so, als versuchten die sechs Teilnehmerinnen des Wochenendworkshops den Druck dieses anstrengenden Corona-Winters wegzulachen wie einen aufdringlichen Verehrer, endlich mal wieder lachen, endlich mal wieder Spaß haben. Warum denn auch nicht, wenn für die Veranstaltung Vorkehrungen getroffen wurden, die verhindern, dass die eigenen Aerosole anderen zu nahekommen? "Das ist hier eine Tankstelle für Herz und Hirn", sagt Ulrike Müller. Als Grafik- und Webdesignerin verbringe sie die meiste Zeit vor dem Rechner, da sei so ein Workshop eine schöne Abwechslung. Und abwechslungsreich ist tatsächlich, was Theaterpädagogin Sabine Eberling mit den Frauen macht, damit sie den Kopf freibekommen - denn das sei "die große Kunst des Improtheaters", wie sie zu Beginn erklärt. Sich völlig unvorbereitet auf eine Szene einzulassen, sich ganz dem Moment und den Impulsen hinzugeben, die andere im Spiel aussenden, das ist für Anfänger aber gar nicht so einfach. Also heißt es zunächst: üben, üben, üben. Zum Beispiel, wie man die Bewegungen und Emotionen eines Gegenübers spiegelt. Sabine Eberling kniet auf dem Boden, Workshopteilnehmerin Cornelia Karl imitiert sie, Eberling reckt den Arm, Karl tut es ihr gleich, Eberling hüpft zur Seite, Karl macht es nach. Mit minimaler Zeitversetzung reagieren die beiden aufeinander, ohne abrupte Pausen, ohne Hektik. Zwei, die das mit den Impulsen schon können.
Überhaupt sei die Angst vor Fehlern, die Angst, dass ein Mitspieler keine Impulse aussende, unbegründet. "Irgendwann kommt was, das ergibt sich ganz automatisch", sagt Eberling, die seit zehn Jahren die Improtheatergruppe des Studentenwerks München leitet. Und es braucht auch nicht viel Fantasie, sich diese Signale als unsichtbare Bälle vorzustellen, die die Spieler einander zuwerfen. Eine vorgefertigte Handlung, eine Inszenierung im klassischen Sinne gibt es bei dieser spontanen Form des Bühnenspiels nicht. Zwar kann das Publikum die Handlung beeinflussen, indem es den Spielern eigene Ideen zuruft, doch sind auch solche Einwürfe eher als Impulse zu verstehen denn als unverrückbare Anweisungen eines Regisseurs.
Als Vorläufer des modernen Improvisationstheaters gilt das "Stegreiftheater", das wiederum von der "Commedia dell'arte" beeinflusst wurde, die sich vom 16. Jahrhundert an auf den Straßen und Märkten Italiens entwickelte. Ausgestattet mit in aller Regel spärlichem Bühnenbild, improvisierten Berufsschauspieler ihr Repertoire an Monologen und pantomimischen Einlagen, und ließen es sich dabei nicht nehmen, gelegentlich saftige Gesellschaftskritik einzubauen. Im München des Jahres 2020 hat sich Sabine Eberling vor allem darüber Gedanken gemacht, wie sich ihre Übungen abstandskonform umsetzen lassen. Gerade errichtet sie ein Dreieck aus Bambusrohren, quasi als Grenzlinie, der Rest der Gruppe folgt ihr mit den Augen, es klackt leise, jedes Mal, wenn die Münchnerin einen der zwei Meter langen Stöcke auf den Boden legt.
Die eine ist ein Baum, die andere ein alleinerziehender Vater
Die nächste Übung hat Tempo, sie fördert Kreativität und Kommunikationsfähigkeit. Eine nach der anderen springen die Frauen zu dem Dreieck hin. "Ich bin ein Baum", ruft die Erste, "Ich bin ein Blatt", nimmt die Zweite den Spielball auf. Immer komplexer werden die Sätze nun, immer aktueller die Themen, auf die die Frauen Bezug nehmen. Greta Thunberg, der Klimawandel, das Plastik, und natürlich, wenig überraschend, das Coronavirus. "Ich bin der Impfstoff! Ich bin der Impfstoff!", ruft eine und tut so, als jage sie jemandem mit voller Wucht eine Spritze in den Arm. Die Darstellung von Emotionen ist wichtig. Doch ungehemmt aufeinander zuzulaufen, die Gruppe in einem kleinen Kreis zusammenkommen zu lassen, das geht in Zeiten des Social Distancings natürlich nicht. Dem Spiel der Frauen tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Als die Teilnehmerinnen am Ende des Workshops ihre eigene Szene spielen dürfen, ist viel Nähe spürbar. "Du bist sexy, und du bist ein alleinerziehender Vater", sagt Ulrike Müller zu Teilnehmerin Margareta Maria Simmet und Theaterpädagogin Eberling.
Müller selbst hat die Rolle eines Regisseurs übernommen, der der improvisierten Szene durch einfache Anweisungen ihre Dynamik verleiht. Sie rutscht auf ihrem Stuhl nach vorne, damit ihr auch kein Wort des Bäckerei-Dialogs entgeht, der sich gerade auf ihr Geheiß hin entfaltet. Lustig? Und wie! Sie sei in Südamerika aufgewachsen, hatte Müller in der Pause verraten, im Rücken den Luftzug einer weit geöffneten Tür, und finde es daher gut, wenn es in Deutschland mal ungezwungener zugehe. Mache locker, so ein Workshop.
Der nächste Workshop in der Feierwerk-Funkstation ist eigentlich am Wochenende 15. Januar (19 bis 21.30 Uhr) und 16. Januar 2021 (11.15 bis 13.30 Uhr) geplant. Im Februar soll ein wöchentlicher Kurs beginnen, montags von 19.30 bis 21.30 Uhr, Kosten: 65 Euro für neun Termine, Anmeldung unter sabine.ebbi3@gmail.com oder sybille.schlamp@feierwerk.de. Ob die Angebote so überhaupt stattfinden können, ist von den weiteren Corona-Entwicklungen abhängig, daher lohnt sich im neuen Jahr der Blick auf funkstation.feierwerk.de.