Schwabing:Der Latschenbaum

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Vor mehr als sechs Jahrzehnten hat sich im Biedersteiner Wohnheim eine Tradition etabliert, über die sich Besucher sehr wundern. Jedes Mal, wenn Studenten dort ausziehen, werfen sie ein Paar Schuhe nach oben über die Äste

Von Carlotta Roch

Wenn sich Vadim Goryainov an den letzten Schuhwurf erinnert, den er selbst miterlebt hat, muss er grinsen. "Das war im September, wir haben gemütlich gegrillt und dann war es irgendwann Zeit, die Schuhe zu werfen", erzählt er. Nur, dass das Ganze nicht ganz so reibungslos geklappt hat, wie sich der Werfer das vorgestellt hat: Erst nach drei Versuchen sind sie im Baum hängen geblieben. Zusätzlich fielen dabei weitere Paare mit hinunter, die dann selbstverständlich auch wieder ihren Weg zurück in den Baum finden mussten. Für die anwesenden Zuschauer ziemlich lustig, "aber es war auch sehr emotional", wirft Lisa Hofmann ein.

Da baumeln sie: Dieser seltsame Brauch im Biedersteiner Heim stammt aus vergangenen Zeiten. (Foto: Privat)

Die Medizinstudentin wohnt erst seit zweieinhalb Monaten im Biedersteiner Wohnheim, der 22-jährige Informatikstudent Goryainov nun seit gut zweieinhalb Jahren. Und neben seinen berühmt-berüchtigten Faschingspartys ist das Wohnheim auch noch für etwas anderes bekannt: seinen Schuhbaum. Welchen Ursprung der Wurf hat, scheint den Bewohnern des Biedersteiners jedoch neu zu sein. Entgegen der Annahme, dass es schon immer ein "Auszugsritual" scheidender Bewohner gewesen ist, ihre abgenutzten Schuhe als Erinnerungsstück zwischen die Zweige zu werfen, entstand das Ganze eher aus einer Albernheit heraus. So erzählt es zumindest Wolfgang Seidel - und er muss es wissen, schließlich war er damals, im Sommer 1955, live beim allerersten Wurf dabei. 1953 war er nach dem Abitur in Neuburg an der Donau zum Elektrotechnikstudium nach München gekommen, über einen Schulfreund landete er 1954 schließlich im Biedersteiner.

Hier - im Biedersteiner Wohnheim - wurde die seltsame Tradition in den 50er Jahren geboren. (Foto: Privat)

"Wir saßen draußen und haben den anderen beim Fußballspielen zugeschaut. Einer hat sich dafür die Schuhe ausgezogen und barfuß mitgespielt, woraufhin mein Kumpel, der neben mir auf der Treppe saß, die Schuhbändel zusammengebunden und die Treter einfach in den Baum geworfen hat." In der Hoffnung, der andere würde auf den Baum steigen, um sie wieder herunterzuholen - doch der Scherzkeks wurde eines Besseren belehrt: Der Barfuß-Bolzer ließ sie einfach dort hängen, wohl auch, um dem Übeltäter den Spaß zu verderben, der schon darauf wartete, sich über die Kletterversuche des Schuhlosen zu amüsieren. Im Spätherbst, so erzählt Seidel, kam dann ein weiteres Paar dazu, wie und von wem weiß keiner so recht, doch von da an seien es immer mehr geworden. "Man hat es damals offensichtlich dafür genutzt, seine Schuhe zu entsorgen", vermutet er. Irgendwann habe er dann auch mal welche hochgeworfen. "Ich habe sie sogar mit Draht zusammengebunden, damit die Bändel nicht so schnell verrotten und die Dinger wieder runterfallen", erzählt der 85-Jährige.

Wolfgang Seidel, der 1959 als Student noch artig Hemden, Schlips und Anzug trug. (Foto: Privat)

Wie sich aus dem anfänglichen Entsorgungsgedanken schließlich eine Verabschiedungstradition entwickelte, weiß keiner so recht. "Mittlerweile ist der Schuhwurf einfach Tradition" erzählt Goryainov. Bevor es zu dem ungewöhnlichen Abschiedsritual kommt, wird eine Party veranstaltet. Am Ende finden dann die Schuhe feierlich ihren Weg in den Baum. Meistens sind diejenigen, die dran glauben müssen, ein ausgelatschtes Paar "Partyschuhe", die nach all der Zeit im Biedersteiner und diversen Feiern, (vermutlich) in Bier getränkt, eigentlich nur noch für die Tonne gut sind. Neuen Bewohnern fällt die ungewöhnliche Dekoration natürlich sofort auf, besonders, wenn sie aus ihren Zimmerfenstern in den Garten und unmittelbar auf den Baum schauen. "Da wird dann schnell gefragt, wieso eigentlich Schuhe im Baum hängen", erzählt Hofmann und lacht.

Wolfgang Seidel heute. (Foto: Privat)

Doch vielleicht unterstreichen gerade schräge Einfälle wie der Schuhbaum den liebevollen Charakter und die Sympathie für das Wohnheim, welches die Studenten so schätzen. "Hier stehen einem immer alle Türen offen", sagt die 24-Jährige. Jessica Weiß, 21 Jahre alt und seit zwei Jahren Bewohnerin, gefällt besonders, dass "man hier nie einsam ist". "Es ist immer was los, und die Atmosphäre ist einfach cool", sagt Goryainov.

Das ist anscheinend schon seit 65 Jahren der Fall, denn auch Wolfgang Seidel findet ähnliche Worte, wenn er sich an seine Zeit in dem Wohnheim erinnert. "Man hat dort gerne gewohnt, und ich denke immer mit Freude an meine Studentenzeit zurück." Etwa 200 Studenten nennen das Biedersteiner heute ihr Zuhause, und wie auch schon damals, ist der Aufenthalt im Biedersteiner auf sechs Semester limitiert. Eigentlich, denn Seidel hatte damals Glück, er durfte noch ein Jahr dranhängen. Ab und zu, wenn er aus Bruckmühl, Landkreis Rosenheim, den Weg nach München findet, versucht er, am Biedersteiner vorbeizukommen und sich anzuschauen, wie sich das Gebäude so entwickelt hat.

Ähnlich geht vielen weiteren Ehemaligen. Hofmann hat dazu noch eine Anekdote in petto: "Letztens sind hier zwei Bewohner vorbeigekommen, die in den Achtzigerjahren im Biedersteiner gewohnt haben, bei dem Rundgang durch das Haus ist der Dame aufgefallen, dass die rote Kommode, die sie damals selbst angestrichen hat, noch immer in der Wohnung im ersten Stock steht. Da sind ihr die Tränen gekommen, das war wirklich rührend."

Was Hofmann, Goryainov und Weiß dem Biedersteiner hinterlassen würden? Nun, dafür braucht man in ein paar Semestern wohl einfach nur nach draußen in den Garten zu blicken. Nach ihrem Auszug ist der Baum dann nämlich mit Sicherheit um drei Schuhpaare reicher. Die baumeln vielleicht sogar direkt neben einem Paar Turnschuhen von 1959.

© SZ vom 09.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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