Süddeutsche Zeitung

Schwabing:Austausch zwischen den Welten

Die Parkstadt gilt als Hightech-Standort mit 12 000 Arbeitsplätzen. Dabei geht fast unter, dass dort auch 2500 Menschen wohnen. Deren Interessen zu wahren, ist Ziel des Nachbarschaftstreffs "Lilly 10"

Von Stefan Mühleisen, Schwabing

Es gibt in der Parkstadt Schwabing einen idealen Ort, um sich die Unwucht in diesem Quartier vor Augen zu führen. Der Standort: Lilly-Reich-Straße 10, die Blickrichtung: Südosten. Links reihen sich vierstöckige, marineblaue Wohnhäuser aneinander, mit den auskragenden Balkondächern unter den Dachfirsten sieht es ein wenig so aus, als hätten sie kecke Käppis auf. Die charmanten Bauten wirken jedoch wie kleine putzige Zwerge im Vergleich zu den wuchtigen Glas- und Betonkomplexen schräg gegenüber: Massiv erheben sich dort die Highlight-Towers, das Motel One, der Accenture-Riegel.

Deutlich zeigt sich, dass da zwischen Mittlerem Ring und Domagkstraße zwei separate Welten zusammengebaut sind: eine kleine Welt des Wohnens mit gut 2500 Menschen - und eine ziemlich große der Hightech-Firmen mit 12 000 Arbeitsplätzen. "Es müsste mehr Austausch geben", sagt Nele Kosian.

Die 28-Jährige sitzt an einem Tisch, drinnen im Haus an der Lilly-Reich-Straße 10, wo sich seit 2012 das "Lilly 10" befindet, der Nachbarschaftstreff der Parkstadt. Kosian ist seit Kurzem die neue Leiterin, eine Frau mit jugendlicher Ausstrahlung und offenem, zurückhaltendem Habitus. Vergangenes Jahr hat die Münchnerin ihr Studium in den Fächern Management sozialer Innovationen und Soziologie an der LMU abgeschlossen - und dabei auch über Nachbarschaftstreffs in München geforscht. "Ich weiß, welches Potenzial die Treffs haben", sagt Kosian. "Dafür will ich den Nachbarn erst einmal viel zuhören und erfahren, was fehlt und was gewünscht wird."

Ihr ist klar, dass ihrer Einrichtung eine wichtige Rolle im Stadtviertel zukommt. Nachbarschaftstreffs agieren als sozialer Akteur, es geht neben Kontaktpflege und Freizeitgestaltung auch darum, sozial schlecht Gestellten Teilhabe zu ermöglichen, Plattform für die Sorgen und Nöte im Viertel zu sein. In der Parkstadt gibt es davon so einige, wie Nele Kosian schon erfahren hat. Sie weiß, dass die Nachbarn eine Minderheit sind in einem Heer von täglich einpendelnden Büromenschen. Sie weiß auch, dass diese Unwucht in der Zukunft nicht ausgebügelt wird. Der Generalentwickler, die Firma Argenta, will die verbliebenen Brachflächen mit noch mehr Büros bebauen anstatt mit 800 Wohnungen, wie ursprünglich einmal geplant.

Die Stadtreparatur ist abgeblasen, die Welt der Büros wird noch größer - für Kosians Vorgängerin, die sehr engagierte Gerlinde Gottlieb, und die Parkstädter eine niederschmetternde Nachricht. In ihrem Lilly-10-Bericht für 2019 konstatierte Gottlieb: Die Chance für eine Balance zwischen Wohnen und Arbeiten, überhaupt für ein lebendigeres Stadtviertel, "ist nun endgültig vertan". Dabei wechselt Gottlieb keineswegs aus Frust zum nigelnagelneuen Nachbarschaftstreff im Neubauviertel "Am Südpark". Das Angebot habe sie gereizt, zumal die Einrichtung nur zehn Minuten von ihrem Wohnort entfernt sei.

An der Parkstadt schätzt sie, was auch die neue Chefin schon festgestellt hat: Gemessen an der Bevölkerungszahl ist der Treff außergewöhnlich gut frequentiert, ein "sehr stabiles Netzwerk" nennt Kosian die Lilly-10-Gemeinde. Genau 4153 Besucher kamen im Jahr 2019 in den Treff, so einige davon auch aus den angrenzenden Straßenzügen. 2454 Stunden verbrachten sie dort, ob nun im Foto- oder Leseklub, bei Fitnesstraining und Spieleabenden, im Gitarrenkurs oder der Nähwerkstatt - begleitet von 19 ehrenamtlichen Helfern, zuletzt eingeschränkt durch die Corona-Vorgaben. Während des teilweisen Lockdowns hat der Treff eine Hotline eingerichtet, 300 Hilfseinsätze wurden bereits absolviert. Kosian überlegt derzeit, wie Angebote schon bald digital vonstatten gehen könnten, etwa durch Video-Konferenzen.

Lilly 10 ist somit eine geschätzte Hausnummer in der Parkstadt - auch und vor allem, weil sich das Leitungsteam traditionell für infrastrukturelle Verbesserungen, für mehr städtisches Leben in diesem vom Gewerbe dominierten Stadtteil einsetzt. Kosian will das ausbauen. "Es geht um mehr Austausch mit den Firmen und darum, dass sie die Bewohner als Nachbarn sehen." Die getrennten Sphären sollen sich besser kennenlernen, bei Firmenbesuchen, womöglich gemeinsamen Festen.

Und da ist noch der zentrale Park, Quell ewigen Missfallens der Parkstädter. Denn der ist eher zum Anschauen, weniger zum Benutzen. Eine Art künstlich generierte grüne Brache, die als Erholungsraum gestaltet werden könnte - allerdings, so fordert es schon lange auch der Bezirksausschuss, keinesfalls über die Köpfe der Parkstädter hinweg. "Die Parkstädter müssen da unbedingt eingebunden werden", sagt Nele Kosian durchaus streng. Sie schaut aus dem Fenster nach Südosten.

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Quelle:
SZ vom 10.11.2020
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