Schulung für Senioren:Und täglich lauert die Gefahr

Präventionsfahrt der Polizei München für Senioren - Kaffeefahrt

Durch die Präventionsfahrt sollen die Seniorinnen und Senioren für Gefahren sensibilisiert werden, denen sie aufgrund ihres Alters besonders ausgesetzt sind.

(Foto: Corinna Guthknecht)

Senioren verunglücken überproportional häufig im Straßenverkehr oder werden Opfer von Trickbetrügern. Bei einer Kaffeefahrt ins Oberland leistet die Münchner Polizei unterhaltsam Aufklärungsarbeit.

Von Julian Hans

Ich bin 82 Jahre alt und ich fahre noch sehr gut Auto!", sagt der Mann im grauen Janker selbstbewusst. Gestützt auf zwei Stöcke hat er sich gerade Stufe um Stufe die Treppe zu einem Seminarraum im Gasthof "Jägerwirt" hinabgetastet. Er setzt sich zu den anderen Senioren an den Tisch. Vor jedem liegen Block und Stift. Alle Augen richten sich auf einen Mann in Uniform: Was hat die Polizei sich diesmal ausgedacht?

Ein Donnerstag im Mai. Früh um acht ist ein Reisebus mit 40 Senioren an Bord ins Bayerische Oberland gestartet. Zur "Präventionsfahrt", organisiert vom Polizeipräsidium München und dem Münchner Blaulichtverein. Sie soll die Teilnehmer für Gefahren sensibilisieren, denen sie aufgrund ihres Alters besonders ausgesetzt sind. Die alternde Gesellschaft bringt auch neue Herausforderungen für die Sicherheit. Die Präventionsfahrt ist ein Versuch, darauf eine Antwort zu geben.

Der Test, den die Damen und Herren gleich machen werden, ist die letzte von vier Stationen. Bei zweien ging es um das Verhalten im Straßenverkehr. Erst um Fußgänger: 18 Prozent der Bewohner der Landeshauptstadt sind älter als 65. Aber bei den im Verkehr getöteten Fußgängern haben Senioren einen Anteil von 75 Prozent. Die vier Fußgänger, die im vergangenen Jahr auf den Straßen der Landeshauptstadt zu Tode gekommen sind, waren 66, 69, 93 und 25 Jahre alt. Eine Möglichkeit, sich zu schützen, ist: Geduld haben. Die Straße erst betreten, wenn die Fußgängerampel frisch auf Grün umgesprungen ist, damit man die ganze Grünphase nutzen kann, um auf die andere Seite zu kommen.

Später geht es ums Radfahren: "Wer von Ihnen fährt denn noch regelmäßig mit dem Radl?", fragt der Polizist. Von den acht Teilnehmern in der Kleingruppe melden sich sechs. Drei von ihnen haben dann zugegeben, dass sie dabei keinen Helm tragen. Viele dächten, "wenn ich von einem Auto überfahren werde, hilft mir auch kein Helm mehr", sagt der Beamte. Tatsächlich reiche aber oft schon "ein Schubser", um Radfahrer schwer stürzen zu lassen. So wie in dem Fall des 86-Jährigen, der im April in Ottobrunn verunglückte, als plötzlich neben ihm die Türe eines parkenden Autos aufgestoßen wurde. Der Mann starb wenig später an einer Kopfverletzung, vor der ihn ein Helm wohl geschützt hätte.

Ebenfalls im April verunglückte ein 88-Jähriger Münchner mit einem Elektrorad. Er fuhr auf der Stegmühlstraße über eine rote Ampel und stieß mit einem Auto zusammen. Mit viel Glück und einer Platzwunde am Kopf überlebte er. "Die Elektrofahrräder machen uns Sorgen, weil man mit wenig Kraft hohe Geschwindigkeit erreichen kann", sagt Michael Reisch. Der Erste Polizeihauptkomissar leitet die Verkehrsprävention im Münchner Polizeipräsidium. Im vergangenen Jahr sind die Unfälle mit solchen Pedelecs in München um 25 Prozent gestiegen, so steht es im Verkehrsbericht des Polizeipräsidiums.

"Der Verkehrsraum in der Stadt wird immer enger", sagt Reisch. Es kommen auch immer neue Fahrzeuge dazu, nun etwa die Elektroroller. Eigentlich erfordere das mehr Rücksichtnahme. Aber Reisch stellt fest, dass die Toleranz schwindet: "Wenn die Fußgängerampel auf Rot umspringt und es steht noch jemand auf der Fahrbahn, reagieren viele mit Ungeduld". Dort, wo es gehe, werde bei der Stadtplanung an die Senioren gedacht. Etwa indem bei Ampeln in der Nähe von Altersheimen die Grünphasen für die Fußgänger verlängert würden. Längere Grünphasen für Fußgänger an allen Ampeln der Stadt würden allerdings automatisch noch längere Staus bedeuten.

Besonders gefährdet

München wächst, das hält jung. So lässt sich der Demografiebericht des Referats für Stadtplanung und Bauordnung aus dem Jahr 2017 knapp zusammenfassen. Weil besonders viele Menschen im erwerbsfähigen Alter in die Landeshauptstadt ziehen, bleibt die Altersstruktur in den nächsten 20 Jahren etwa gleich, so prognostizieren es die Demografen. Gleichwohl leben immer mehr alte Menschen in der Stadt. Laut der Prognose werden es 2040 etwa 32 700 mehr Senioren im Alter zwischen 65 und 75 Jahren sein als heute - ein Zuwachs von fast 25 Prozent. Die Gruppe der Hochbetagten, also der Menschen, die 75 Jahre oder älter sind, wächst demnach im gleichen Zeitraum um fast 25 000 Personen (ein Plus von 18 Prozent). Senioren sind heute mobiler als früher. Laut dem Verkehrsbericht des Polizeipräsidiums München steigt auch die Zahl der Unfälle, an denen Senioren beteiligt sind. 2018 zählte die Münchner Verkehrspolizei 4176 solche Fälle. Vor zehn Jahren waren es etwa 500 weniger. Fast zwei Drittel dieser Verkehrsunfälle (61 Prozent) wurden demnach von den Senioren verursacht. Derzeit sind etwa 18 Prozent der Münchner 65 Jahre oder älter. Unter den Beteiligten an Verkehrsunfällen machen sie derweil nur 13 Prozent aus. Das wird damit erklärt, dass Senioren nicht mehr täglich zur Arbeit fahren müssen und daher im Schnitt seltener am Straßenverkehr teilnehmen. Allerdings kommen sie bei Unfällen überdurchschnittlich oft ums Leben: Zehn Senioren starben im vergangenen Jahr, das sind 38,5 Prozent, also mehr als ein Drittel der Verkehrstoten. Im gesamten Bundesgebiet waren Senioren unter den Getöteten im Straßenverkehr mit 31 Prozent ebenfalls überrepräsentiert (bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 21 Prozent). Der Anteil der Senioren an den Verkehrstoten steigt dabei schon seit Langem an: War 1980 noch etwa jeder fünfte Verkehrstote 65 oder älter gewesen, war es 2017 etwa jeder dritte. anh

Aber es geht nicht nur um den Verkehr an diesem Tag im Bayerischen Oberland. Es gibt auch Straftaten, denen überwiegend alte Menschen zum Opfer fallen. Drei Beamte der Polizeiinspektion Laim führen ein kleines Theaterstück auf. Stephan Hochkirch, ein echter Polizeioberkommissar, ist in die Rolle eines falschen Polizisten geschlüpft, der eine betagte Bürgerin anruft. Hochkirchs Kollegin hat sich für die Rolle eine graue Strickjacke über die Uniform gezogen. "Wir haben in Ihrer Gegend gefährliche Einbrecher festgenommen", schwindelt der Anrufer sie an. Und dann macht er ihr Angst: "Bei den Einbrechern wurde eine Liste gefunden, da stand auch Ihre Adresse drauf." Ob sie Schmuck oder Bargeld im Haus habe? Die solle sie besser der Polizei übergeben, zur Sicherheit. Er schicke einen Beamten vorbei, der die Wertsachen zur Verwahrung abholt. Gefahr sei im Verzug, und um die Ermittlungen nicht zu gefährden, dürften die Angerufenen mit niemandem darüber sprechen; ein Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht sei strafbar!

Im Frühjahr hatte es in München eine neue Welle solcher betrügerischer Anrufe gegeben. Mehr als 400 davon zählte die Polizei in einer Woche. In mindestens vier Fällen waren die Betrüger erfolgreich: Eine 81-Jährige aus Denning hängte Bargeld, Schmuck und Edelmetalle im Wert von 30 500 Euro in einem Stoffbeutel an ihren Gartenzaun, wo sie kurz danach von einem Unbekannten abgeholt wurden. Ein 81-Jähriger aus Mittersendling holte Goldbarren im Wert von 55 000 Euro aus einem Bankschließfach und legte sie vor seine Wohnungstüre, am nächsten Morgen waren sie verschwunden. Ähnlich erging es einer 79-Jährigen aus Oberföhring, sie verlor auf diese Weise Ersparnisse im Wert von 70 000 Euro.

Die meisten Teilnehmer des Präventionstrainings kennen die Masche schon aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen. Einer gibt zu, dass er selbst schon mal auf einen Trickbetrüger reingefallen ist: Ein Mann am Telefon hatte sich als Mitarbeiter von Microsoft vorgestellt und Zugang zu seinem Computer verlangt, erzählt der 65-Jährige. Als er sich darauf einließ, sperrte der Betrüger seinen Computer und gab ihn erst wieder frei, als er ihm mit Western Union 160 Euro überwiesen hatte.

Weil sich Menschen im Alter besonders wehrlos fühlen, ist das Unsicherheitsgefühl in dieser Bevölkerungsgruppe besonders hoch. Mit der Kriminalstatistik lässt es sich allerdings nicht begründen. Das Alter der Opfer wird nur bei Tötungs-, Sexual- oder Rohheitsdelikten - also etwa bei Raub oder Körperverletzung - statistisch erfasst. In München sind 22,5 Prozent der Bevölkerung 60 Jahre und älter. Unter den Opfern der erwähnten Straftaten ist ihr Anteil aber geringer: Er liegt bei 5,8 Prozent. Allerdings gibt es Straftaten, von denen Senioren überproportional betroffen sind. Trickbetrüger, die sich als falsche Polizisten ausgeben, wählen gezielt alte Menschen als Opfer aus. Und der Enkeltrick funktioniert selbstverständlich auch nur bei Menschen, die Enkel haben oder haben könnten. Auch Einbrecher suchen sich häufig Wohnungen älterer Menschen aus, hier lag der Anteil unter den Betroffenen bei 27,7 Prozent.

Aufklärung ist der beste Weg, um solche Straftaten zu verhindern. Um die Zielgruppe zu erreichen, hat sich die Polizei ausnahmsweise von Betrügern inspirieren lassen und diese Touren nach dem Schema der Kaffeefahrt aufgezogen. Nur dass es hier eben keine Verkaufsveranstaltung mit Rheumadecken und Prostata-Pulver gibt, sondern Prävention. Für 15 Euro bekommen die Teilnehmer etwas Abwechslung, einen Schweinsbraten und ein Freigetränk zum Mittag und eine Stadtführung durch Bad Tölz.

Aber vorher muss noch die letzte Station bestanden werden, der Selbsttest: Jeweils für zwei Sekunden wird auf einer Leinwand eine Verkehrssituation gezeigt. Gleichzeitig sagt eine Stimme vom Band eine Zahl. Auf ihren Blocks kreuzen die Teilnehmer an, ob auf dem Foto Autos, Radfahrer, Fußgänger, Ampeln oder Verkehrszeichen zu sehen waren. Zusätzlich sollen sie die Zahl notieren, die sie gehört haben. Hinterher wertet jeder seine Ergebnisse selbst aus. Die Polizisten bekommen sie nicht zu sehen. Sie müssten sonst von Amts wegen eine Meldung machen, wenn jemand außergewöhnlich schlecht abschneidet. Und wer würde dann noch freiwillig bei einem Präventionstraining mitmachen, wenn man Gefahr läuft, hinterher seinen Führerschein los zu sein?

In der Schweiz müssen sich alle Führerscheininhaber über 70 alle zwei Jahre vom Arzt auf Fahrtauglichkeit testen lassen. In Deutschland darf jeder so lange Auto fahren, wie er will. Der Selbsttest soll dazu anregen, über die eigene Auffassungsgabe und Reaktionsfähigkeit nachzudenken. Die Ergebnisse werden nachher beim Schweinsbraten Gesprächsthema Nummer eins sein. "Die Alten sind immer die anderen", sagt Michael Reisch von der Verkehrspolizei. "Man merkt oft selbst nicht, dass man schon zu denen gehört, die weniger gut sehen und hören und nicht mehr so schnell reagieren."

Als alle schon weg sind zum Essen, bleibt einer verloren im Seminarraum zurück. Der Mann, der eben noch selbstbewusst behauptete, er fahre mit 82 noch "sehr gut Auto", hat die Terrassentür mit dem Ausgang verwechselt. Im Test hat er gut abgeschnitten.

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