Schulstadt München:Zur Baustelle verkommen

Schulstadt München: Das Michaeli-Gymnasium in Berg am Laim ist äußerlich ein ziemlich grauer Klotz. Dass es auch anders ginge, beweisen die Schüler der Klassen 6c und 6d.

Das Michaeli-Gymnasium in Berg am Laim ist äußerlich ein ziemlich grauer Klotz. Dass es auch anders ginge, beweisen die Schüler der Klassen 6c und 6d.

(Foto: Zeichnung: Cèline Pala)

München hat ein großes pädagogisches Erbe und auch heute noch hehre Ziele. Dabei liegt in der selbst ernannten "Schulstadt" inzwischen vieles im Argen, der Alltag ist manchmal einfach nur eklig. Es ist Zeit, politisch umzudenken - damit die Kinder sich wieder auf die Toiletten trauen können.

Von Kassian Stroh

Nur so ein Gedankenspiel: 2017 veranstaltet die Stadt im Olympiastadion ein Fest, 60 000 Schüler kommen. Und in einer Grundsatzrede stellt die neue Stadtschulrätin, da gerade ein gutes Jahr im Amt, sich und ihre Vorstellungen von Schulpolitik erstmals breit der Öffentlichkeit vor. Eine abstruse Idee?

Am 9. Mai 1896 war das genau so, als der neue Stadtschulrat Georg Kerschensteiner hieß. Nur dass er auf dem Königsplatz sprach, vor 20 000 Schülern. Solch einen Stellenwert hatte die Schulpolitik damals, und Kerschensteiner mehrte ihn noch. Unter seiner Ägide wurde die Ausbildung von Mädchen stark verbessert, er erfand die duale Ausbildung aus Lehre und Berufsschule, wie sie bis heute in ganz Deutschland praktiziert wird. München wurde so zum "Mekka der Pädagogik in der Welt", heißt es in einer Kerschensteiner-Gedenkschrift von 2004.

Wo Mädchen sich weigern, aufs Klo zu gehen - aus Ekel

"Schulstadt München": Das ist seitdem eine Marke, ein großes Erbe - und ein hoher Anspruch. Doch die Schulstadt München ist zur Baustelle geworden, vielleicht sogar verkommen. Zum einen im durchaus wörtlichen Sinne: Viele Gebäude bedürfen dringend einer Sanierung, sie sind auch insgesamt zu eng, wegen der wachsenden Bevölkerung. Zu wenige Klassenzimmer, provisorische Container-Quartiere, viel zu wenige Turnhallen oder für den Unterricht nutzbare Schwimmbecken. Darf es sein, dass es in München Mädchen gibt, die sich des versifften Zustandes der Toiletten wegen weigern, in der Schule aufs Klo zu gehen? Dass Sportunterricht auf dem Schulflur stattfindet, weil keine Turnhalle zu nutzen ist?

Zum anderen ist das Münchner Schulwesen auch konzeptionell eine Baustelle. Stadtschulrat Rainer Schweppe forciert die Ganztagsschulen; viele Eltern, Lehrer und freien Trägerverbände lehnen diese aber - zumindest in ihrer real existierenden Form - ab. Bei neuen und renovierten Schulen setzt der selbst ernannte Reformer Schweppe voll auf sein "Lernhaus"-Konzept, das das herkömmliche Klassenzimmer abschafft; dagegen hegt vor allem die Lehrerschaft Bedenken, inhaltlich begründete oder schlicht strukturkonservative.

Wie überhaupt die Pädagogen sehr unzufrieden sind mit dem Ist-Zustand der Schulstadt München. Als vergangene Woche eine Umfrage schwere Defizite beim Klima an Münchens Schulen offenbarte, meldete sich prompt die Lehrergewerkschaft GEW zu Wort: Das wundere sie wegen der gestiegenen Arbeitsbelastung nicht, so der Tenor. Ständig weise Schweppe den Lehrern neue Aufgaben zu, stoße unausgegorene Reformen und Experimente an. Und weil sich sogar Schulrektoren schwer tun - von Eltern ganz zu schweigen -, bei einem Problem den richtigen Ansprechpartner im Schulreferat ausfindig zu machen, weil die Zusammenarbeit mit Bau- und Kommunalreferat hinten und vorne nicht klappt, wächst die Unzufriedenheit mit dem Amt und seinem Chef. Im Rathaus glauben viele, dass Schweppes 2016 auslaufende Amtszeit nicht verlängert wird.

Das teure Privatvergnügen der Stadt München

Auf dem Papier tut die Stadt viel für ihre Schulen, im Jahr gibt sie um die 700 Millionen Euro aus; die Summe wird wegen all der Neubauten und Sanierungen in den kommenden Jahren eher noch steigen. Und das ist mehr, als die Stadt tun müsste. Zwar ist jede Kommune für Schulgebäude, Tafeln und Tische zuständig. Aber München betreibt auch 115 eigene Schulen, Berufsschulen vor allem, Realschulen und Gymnasien, deren Lehrer sie selber anstellt und bezahlt.

320 Millionen Euro kostet sie das im Jahr, nur 146 Millionen davon erstattet der Freistaat. Dabei ist Bildung eigentlich Ländersache. Der Streit darüber ist uralt, bis zum Verfassungsgerichtshof ist er schon getragen worden, doch der hat eigene Schulen quasi als Privatvergnügen der Stadt bezeichnet. Das Erbe Kerschensteiners, der Anspruch, Schulstadt zu sein - er ist München also nicht nur lieb, sondern auch teuer.

Grundschule mit einem Pony namens Carlos

Schulstadt München: Das Michaeli-Gymnasium in Berg am Laim ist äußerlich ein ziemlich grauer Klotz. Dass es auch anders ginge, beweisen die Schüler der Klassen 6c und 6d.

Das Michaeli-Gymnasium in Berg am Laim ist äußerlich ein ziemlich grauer Klotz. Dass es auch anders ginge, beweisen die Schüler der Klassen 6c und 6d.

(Foto: Zeichnung: Cèline Pala)

Bis in die Neunzigerjahre hinein wurde deshalb immer wieder darüber debattiert, die Schulen dem Freistaat zu übergeben. Davon ist längst nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Damit es nicht gar zu teuer wird, gab es lange eine Obergrenze für neue Klassen an den städtischen Gymnasien und Realschulen. Die wurde vor einem Jahr gekippt. Dass der Stadtrat so bereitwillig Geld gibt, nimmt Schweppe als Zeichen dafür, dass "Schulstadt München" nicht nur ein Erbe ist, sondern inzwischen auch eine Selbstverständlichkeit.

Die CSU hat in vielen Fragen nachgezogen

Doch vielleicht macht Selbstverständlichkeit auch träge. Denn vieles von dem, was in München heute (noch immer) besonders ist, gründet in alten Zeiten. Die Stadt war führend bei Ganztagsschulen und -betreuung. Schon 1963 ging an der Hochstraße eine Grundschule mit Tagesheim in Betrieb - seinerzeit ein Unikum, nicht nur wegen des Ponys Carlos im Garten, das die Kinder pflegen durften.

1970 öffnete im Münchner Norden Bayerns erste Gesamtschule, 1973 die schulartunabhängige Orientierungsstufe in Neuperlach. In diesen beiden Einrichtungen werden die Kinder bis zur zehnten respektive sechsten Klasse gemeinsam unterrichtet. Die frühere Bürgermeisterin Gertraud Burkert (SPD) hat sie mal als den "pädagogischen Stachel im dreigliedrigen staatlichen Schulsystem" bezeichnet, das in Bayern bis heute heilig ist.

Trotz der geringen Einflussmöglichkeiten hat das rot regierte München seine Schulpolitik immer auch als einen Gegenentwurf zu der des schwarz regierten Freistaats verstanden. Doch der Antagonismus ist geschwunden: Die bildungspolitischen Debatten sind längst nicht mehr so ideologisch wie noch vor 20 Jahren, die CSU hat in vielen Fragen nachgezogen, sie hält nicht einmal mehr berufstätige Eltern für Sünder, und ihre Bildungspolitik wird derzeit auch noch maßgeblich von zwei Münchnern verantwortet: von Kultusminister Ludwig Spaenle und seinem Staatssekretär Georg Eisenreich.

Sollte man sich von der Marke "Schulstadt" trennen?

Da tut sich die Schulstadt München schwer, Stachel im Fleisch zu sein (so sie es denn überhaupt noch wollte). Sich zu rühmen, es schon früher besser gewusst zu haben, reicht für hehre Ansprüche längst nicht aus. Und so fortschrittlich der Alltag an städtischen Schulen oft war, die eher als andere auf Gruppenarbeit statt auf Frontalunterricht setzten oder Computer kauften - in der Praxis macht es heute für einen Schüler kaum einen Unterschied, ob er eine städtische oder eine staatliche Schule besucht.

Wäre es also nicht an der Zeit, sich von der Marke "Schulstadt" zu verabschieden, das Streben nach Innovationen sein zu lassen und sich erst einmal darum zu kümmern, dass die Baustellen an den Schulen (und zwar diejenigen im Wortsinne) gut geschlossen werden? Dem wäre so, hätte Bildungspolitik nicht auch die große Aufgabe, Chancengerechtigkeit herzustellen, die Teilhabe aller an der Gesellschaft zu ermöglichen.

Das ist zentral in einer Stadt, in der trotz all ihres Wohlstands jeder Fünfte arm oder von Armut bedroht ist, und in der mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen einen sogenannten Migrationshintergrund hat. Hier bliebe genug Raum für Wegweisendes - und sinnvolle Ansätze verfolgt sie ja, indem etwa Schulen in Problemvierteln mehr Geld bekommen als andere. Die Gefahr einer "Beschäftigung als jugendliche Tagelöhner", der Verwahrlosung von Kindern gar - das waren übrigens die Argumente, mit denen Georg Kerschensteiner vor mehr als 100 Jahren seine Reformen begründete.

Am Montag lesen Sie: Mikrokosmos Schule - wer dort was zu sagen hat

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: