Schulprojekt:Hexerei im Unterricht

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Sechstklässler des Lion-Feuchtwanger-Gymnasiums spielen Ankläger und Beklagte in einem mittelalterlichen Hexerei-Prozess. (Foto: Robert Haas)

Statt immer nur ins Geschichtsbuch zvu starren, erarbeiten sich Gymnasiasten historisches Wissen mit Rollenspielen. In Skandinavien ist diese Lernform längst etabliert, in München wird sie nun in einem Pilotprojekt erprobt

Von Salomé Meier

Man schreibt das Jahr 1400. Ein Ratssaal in München, unweit des Tatortes, dem Marktplatz. Die Vorsitzenden des Stadtrates nehmen Platz. Dann setzen sich die geladenen Ankläger aus drei einflussreichen Münchner Familien. Ihre Anklagen lauten: Hexerei und Gotteslästerei, Kindsentführung, Teufelsanbetung und Beleidigung. "Euer Ehren!", ruft Herr Salzer, dessen Familie bezeichnenderweise bereits seit Generationen mit Salz handelt, "ich habe gesehen, wie Frau Steinauer einem Kranken mitten auf dem Marktplatz einen Trank ausgeschenkt hat, worauf dieser bereits zwei Tage später geheilt war. Das ist Hexerei!"

So beginnt die fiktive Gerichtsverhandlung, pünktlich auf den Glockenschlag in einer sechsten Klasse des Lion-Feuchtwanger-Gymnasiums in Milbertshofen. Elf Schülerinnen und Schüler schlüpfen während einer Doppelstunde Deutschunterricht in die Rolle von Angehörigen eines namhaften Familiengeschlechts im mittelalterlichen München. Später, im zweiten Akt, werden die Rollen dann vertauscht. Die Kläger werden zur Angeklagten. Plötzlich müssen sie sich gegen die Vorwürfe zur Wehr setzen, anstatt sie zu erheben.

Das Lion-Feuchtwanger-Gymnasium ist eine Pilotschule, an der Rollenspiele als interaktive und spielerische Lernform angewendet werden. "Student Activation Role Play", kurz "Star", heißt diese Methode des Unterrichts, bei dem Schauplatz und Rollen vorgegeben sind, jedoch kein Skript.

An den Wänden des Klassenzimmers hängen Blätter mit einem Vokabular, das man für das Spiel brauchen könnte: "Tor, Tölpel, Narr", "törichtes Gebaren", "das ist nicht rechtens", und "Pein" steht da etwa in schwungvoller Schrift. Zögerlich zuerst beteiligen sich die Schüler an dem erfundenen Prozess, knuffen sich in die Seite oder lachen nervös. Doch je konsequenter die Erwachsenen in ihren Rollen bleiben, desto mehr lösen sich bei den Jugendlichen die Hemmungen. Die Erwachsenen, das sind Katrin Geneuss, die derzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität eine Promotionsarbeit zu sogenannten Live-Rollenspielen schreibt, und zwei weitere Mitarbeiter der Universität. Zusammen mimen sie nun im Klassenzimmer die ehrwürdigen Ratsvorsitzenden anno 1400.

"Es gibt kein richtig oder falsch beim Spielen", erklärt Geneuss den Schülern zu Beginn, "jeder akzeptiert die Spielweise der anderen." Die Jugendlichen sollen in einem sanktionsfreien Umfeld etwas über die Geschichte, das Rechts- und Unrechtssystem im Mittelalter lernen. Gleichzeitig sollen sie an ihrem sprachlichen Ausdruck feilen und durch den spielerischen Wechsel der Perspektive - vom Ankläger zur Beklagten - über das damalige Wertesystem reflektieren.

Bevor Geneuss in München mit ihrer Promotionsarbeit begann, arbeitete sie sieben Jahre lang als Lehrerin an einer Schule in Uppsala, Schweden. In den skandinavischen Ländern hat sich diese Form des Rollenspiels in der Schule etabliert. In Dänemark werden zum Beispiel an der Østerskov Efterskole Schule alle Fächer mittels Live-Rollenspiel unterrichtet. Der spielerische Umgang mit dem Lernstoff sei fruchtbar und "das Übernehmen von Rollen sensibilisiert die Schülerinnen und Schüler für Themen, die sonst nicht unbedingt in ihrem Interessenfeld liegen", sagt Geneuss.

Es werden nicht nur Stücke zum Mittelalter gespielt, auch griechische Mythologie steht auf dem Programm, es gibt Spiele zu Kinderrechten, Europa und Lyrik. Finanziert wird das Projekt von der Bildungsstiftung der Stadtwerke München. Die Stiftung unterstützt junge Menschen, die "aufgrund ihrer sozialen Herkunft im heutigen Bildungssystem Nachteile erleiden".

© SZ vom 13.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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