„Auf geht’s, meine Lieben, nicht auf der Straße stehen bleiben.“ Susanne Leograndes Tonfall ist fordernd an diesem Morgen. „Stoppen ist gefährlich“, erklärt sie den Schülern und Schülerinnen, die auf dem Weg zum Freihamer Bildungscampus die Hildegard-Hamm-Brücher-Straße queren. Kaum hat die Schulleiterin des Sonderpädagogischen Förderzentrums München-West ihren Satz beendet, biegt schon ein Lastwagen rückwärts von der Helmut-Schmidt-Allee in die Hildegard-Hamm-Brücher-Straße ein. Kurz darauf folgt ein zweiter, flankiert von Kindern, die auf allen Seiten versuchen, an dem Fahrzeug vorbeizukommen.
Es ist halb acht Uhr morgens, ein Mittwoch Anfang Dezember. Wie an jedem Schultag strömen rund 2700 Kinder und Jugendliche zum Campus: Grund- und Förderschüler, Realschüler, Gymnasiasten. In den kommenden Jahren sollen weitere dazukommen, konzipiert ist das Areal für 3000 Schüler und Schülerinnen. Und ein zusätzlicher Bau für weitere 700 junge Menschen ist bereits in Planung.
Das Schulgelände liegt inmitten Europas größter Baustelle. 30 000 Menschen sollen einmal in Freiham leben, entsprechend breitflächig wird in dem neu entstehenden Stadtteil im Münchner Westen gebaut. Überall rangieren Fahrzeuge und Kräne, immer wieder zwingen neue Abschrankungen Schüler zu geänderten Strecken. Nicht selten müssen die Kinder auf die Straße ausweichen, weil Durchgänge versperrt sind. Eine „große Herausforderung für alle Verkehrsteilnehmer“ nennt ein Sprecher des ADAC die Lage in Freiham.
Lehrer und Eltern formulieren es drastischer. „Die Straßensituation ist aus Sicht aller Schulleiter hochbrisant“, sagt Susanne Leogrande. „Wir sind in allergrößter Sorge, dass den Kindern etwas passieren könnte.“ Ende November ist laut der Polizei an der Aubinger Allee eine Schulbegleiterin verletzt worden: Ein Radlader rammte ein Verkehrszeichen und einen Bauzaun, das Schild fiel der Frau auf den Kopf. Sie kam ins Krankenhaus. Das Problem, bestätigt der Direktor des Gymnasiums Freiham, seien die Engstellen und die Baufahrzeuge, die sich nicht an die Regeln hielten. „Jeden Tag sperren sie wieder irgendwas anderes ab – an die Schüler denkt dabei keiner“, kritisiert Thomas Schranner.
Dass viele Eltern aus Angst um ihre Kinder die Schüler und Schülerinnen selbst mit dem Auto zur Schule bringen, kann Leogrande nachvollziehen – doch es erleichtert die Sache nicht. Denn mangels Parkraums stoppen die Elterntaxen exakt dort, wo eigentlich die Kleinbusse die Kinder aussteigen lassen sollten. Die Folge: „Kamikaze. Gegen acht Uhr wird vor dem Campus in dritter, vierter, fünfter Reihe geparkt, eine Vollkatastrophe.“ Die Schulen haben bereits ihre Unterrichtsstartzeiten entzerrt, um des Chaos’ Herr zu werden und die Gefahr einzudämmen. Außerdem haben sie 32 Aufsichtspersonen über den Tag verteilt, um in irgendeiner Form sicherzustellen, dass die Kinder unbeschadet zur Schule kommen. „Aber wir sind mit der Situation logistisch überfordert“, betont die Leiterin des Förderzentrums.
Doch wie das Problem lösen? 600 Mütter und Väter haben jetzt in einer Petition an den Stadtrat und den bayerischen Landtag die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs für alle Schüler und Schülerinnen in Freiham gefordert. Auch der Bezirksausschuss Aubing-Lochhausen-Langwied plädiert für „eine flexiblere Vergabe von Fahrkarten“. Aufgesprungen auf diesen Zug ist zudem die Stadtratsfraktion der CSU/Freie Wähler: Die Rathauspolitiker sehen es angesichts der Bildungsgerechtigkeit als geboten an, die Kostenfreiheit des Schulwegs unabhängig von der Entfernung generell neu zu denken.
Voriges Schuljahr gab es in Freiham diese kostenfreien Tickets bereits, der Schulweg zum Bildungscampus galt als besonders gefährlich. Im Fokus stand damals hauptsächlich die Aubinger Allee: Sie zu umgehen, verlängerte in der Regel den Schulweg so weit über die Drei-Kilometer-Marke, dass Anträge zur kostenfreien Nutzung des Nahverkehrs grundsätzlich bewilligt wurden.
Die Polizei stuft den Schulweg mittlerweile als „grundsätzlich sicher“ ein
Inzwischen hat das städtische Mobilitätsreferat die Lage allerdings neu bewertet und kommt zu dem Schluss, dass „die sogenannte besondere Gefährlichkeit oder Beschwerlichkeit des Schulwegs, die für eine Kostenfreiheit des Schulwegs erforderlich wäre, nicht mehr pauschal attestiert werden kann“. Die Infrastruktur rund um den Schulcampus Freiham sei weitgehend fertiggestellt: An Stellen, an denen noch gebaut werde, sei „eine gute Baustellenabsicherung vorhanden“. Zudem habe man Mängel, wie eine Ballung von anfahrenden Großfahrzeugen zur schulrelevanten Zeit, in Zusammenarbeit mit der Polizei reduzieren oder beseitigen können. Die Polizei stuft den Schulweg mittlerweile als „grundsätzlich sicher“ ein.
Die Verkehrsbehörde, erklärt Sprecherin Franziska Hartmann, achte bei der Genehmigung von Baustellen „stets darauf, dass die Baumaßnahmen verkehrssicher abgewickelt und die Baustellen von den Verkehrsteilnehmenden gefahrlos passiert werden können“. Ein Team sei regelmäßig an Ort und Stelle, um im Fall von neu auftretenden Situationen jederzeit eingreifen zu können. „Dies ist meist dann notwendig, wenn es zu Fehlverhalten einzelner kommt und etwa Gehwege von Baustellenfahrzeugen zugeparkt sind. Bisher konnten dort jeweils sehr schnell Lösungen gefunden werden.“
Laut dem Mobilitätsreferat sind derzeit mehrere Ansätze in der Prüfung, die Situation zu entschärfen. Fußgängerüberwege über die Helmut-Schmidt-Allee auf Höhe der Mittelinsel und an der Einmündung zur Hildegard-Hamm-Brücher-Straße sind bereits angeordnet und sollen „nach Abschluss der Straßenbauarbeiten umgesetzt“ werden. Außerdem will man den Lieferverkehr für das benachbarte Stadtteilzentrum von Schulbeginn- und Schulende-Zeiten abkoppeln.
Dass der Kontakt mit dem Mobilitätsreferat funktioniert, bestätigt Schulleiter Thomas Schranner – aber, betont er, die Situation ändere sich eben permanent. „Zu sagen, in fünf Jahren ist alles fertig, hilft uns nichts. Die Schüler müssen jetzt sicher zur Schule kommen.“ Eine kostenlose MVV-Karte sieht er nicht als Lösung – zumal die Busse schon so überfüllt seien, dass sie an den Haltestellen vorbeiführen. Der sicherste Weg zu den Schulen führt seiner Ansicht nach über die Busspur entlang der Amalie-Nacken- und der Margarete-Vollmar-Straße bis zur Campusmitte. „Dafür müssten dort nur noch die Autos im Halteverbot weg.“