Süddeutsche Zeitung

Leistungsdruck und Mobbing:Damit die Schule nicht mehr krank macht

Lesezeit: 3 min

Von Jakob Wetzel, München

Niemand habe bemerkt, was geschehen sei, weder die Lehrer noch die Eltern, sagt Gerd Schulte-Körne. Doch das Mädchen, das er schließlich in seiner Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München vor sich hatte, wurde immer ängstlicher. Bei der Einschulung sei das Kind noch sehr gut gelaunt gewesen, sagt der Klinikdirektor. Doch bald wollte es nicht mehr in die Schule, klagte über Übelkeit und Bauchweh. Der Kinderarzt fand nichts, trotzdem schrieb er das Mädchen erst einmal krank. Später kam heraus: Das Mädchen wurde gemobbt. Es musste zuhören, wie Mitschüler schlecht über es redeten, es war allein, einmal rissen ihm andere Kinder beim Radfahren die Schultasche vom Gepäckträger. Die Schuld suchte es bei sich selbst, sagt Schulte-Körne. Wenn die anderen sagten, es sei doof und könne nichts, dann dachte es: Stimmt.

Gerd Schulte-Körne erzählt von diesem und von anderen Fällen am Mittwoch im Café Tambosi am Odeonsplatz, neben sich Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). Denn beide haben eine gemeinsame Botschaft: Schulen und Psychiatrie müssten enger zusammenarbeiten, fordern sie. Dann könne man die Probleme früher erkennen und schneller helfen.

Der Fall des Mädchens sei dabei typisch, sagt Schulte-Körne. In seiner Uniklinik gebe es Patienten, die seit einem halben Jahr vor Angst nicht mehr in der Schule waren, manche sogar seit mehr als einem Jahr. Und bei jeder zweiten Angststörung sei Mobbing zwar nicht der Grund, aber der Auslöser gewesen. Es gehe nicht um das Problem einer Minderheit, sagt der Psychiater, und Fleischmann liefert Zahlen: Sie zitiert Studien, nach denen etwa jedes fünfte Kind in Bayern psychisch belastet aufwächst und fast jedes sechste in seiner Schullaufbahn Opfer von Mobbing wird. Bei 4,5 Prozent der Kinder wird demnach eine Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) diagnostiziert, die Dunkelziffer aber sei hoch, sagt Fleischmann. Knapp fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen werden mindestens einmal wegen einer Angststörung oder Depressionen behandelt. Und die Statistik zeigt: Je weniger wohlhabend die Eltern sind, desto häufiger erkranken die Kinder.

Zu all dem würden immer wieder neue Studien und Statistiken präsentiert, sagt Fleischmann. Die Zahlen würden sich aber nicht nennenswert verändern. Die Probleme seien lange bekannt, die einzelnen Lehrer seien damit täglich konfrontiert - und überfordert. "Und was passiert? Nicht viel, und nicht das Richtige."

Das bayerische Kultusministerium hat zuletzt ein Zehn-Punkte-Programm zur Aufklärung über Depressionen und Angststörungen vorgestellt; es reagierte damit auf die Petition einer Gruppe von Abiturienten. Demnach sollen unter anderem angehende Lehrer im Studium mit dem Problem konfrontiert werden. In Bayern wurden zum aktuellen Schuljahr 60 zusätzliche Stellen für Schulpsychologen geschaffen; die Psychologen sollen zudem enger mit externen Experten zusammenarbeiten. Aufklärung über psychische Erkrankungen soll in die Lehrpläne aufgenommen werden, und die Schulen sollen über ihre Hilfsangebote aufklären.

Das alles sei gut und richtig, findet Simone Fleischmann. Aber es sei zu wenig. Nötig sei mehr, nämlich ein anderes Schulsystem und ein neues Konzept von Leistung. "Wenn Kinder in der dritten Klasse weinen, weil sie zum ersten Mal eine 4 bekommen haben, überlegst du dir, warum du eigentlich Lehrer werden wolltest", sagt sie. "Machen wir die Kinder damit wirklich für die Herausforderungen von morgen fit?"

Oder macht die Schule krank? Schulte-Körne sagt das nicht direkt - aber dass es einen Zusammenhang gebe zwischen dem Schulsystem und psychischen Belastungen, das schon. Die Anforderungen an die Kinder seien gestiegen, sagt er. Es gebe zwei Brüche: die Einschulung und den Übertritt auf die weiterführende Schule. Während dieser Krisen sei das Risiko der Kinder, psychisch zu erkranken, deutlich erhöht, so wie später in der Pubertät. Es sei dringend nötig, dass sich die Schulen dem Thema psychischer Erkrankungen öffnen und Profis in die Schulen lassen. Vor Jahren habe es ein Modellprojekt seiner Uniklinik mit Förderschullehrern gegeben, erzählt er. Die Lehrer hätten dabei gelernt, psychische Erkrankungen zwar nicht zu diagnostizieren, aber doch zu erkennen - um den Eltern dann raten zu können, einen Profi aufzusuchen. Das habe viel gebracht, findet Schulte-Körne. Doch das Projekt sei ausgelaufen.

Was dem BLLV vorschwebt, ist nicht nur eine stärkere Zusammenarbeit von Lehrern mit Psychiatern sowie mit Psychologen, Sozialarbeitern und anderen Berufsgruppen, die an den Schulen Teams bilden sollen. Fleischmann fordert auch, dass bei Bedarf zwei Lehrer eine Klasse unterrichten sollen, damit mehr Zeit ist, um auf einzelne Kinder einzugehen. Ihr sei bewusst, dass es zu wenige Lehrkräfte gerade für Grund- und Mittelschulen gebe. "Ich weiß auch, dass Lehrer nicht vom Himmel fallen. Aber bitte lassen Sie uns neben dem Wahnsinn um den Lehrermangel nicht vergessen, dass es um die Kinder geht."

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SZ vom 12.12.2019
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