Süddeutsche Zeitung

Hochbegabte:Schlauer als die Lehrer

  • Besonders intelligente Kinder fühlen sich im Unterricht schnell unterfordert.
  • Speziell auf ihre Bedürfnisse einzugehen, stand lange Zeit nicht im Fokus der Pädagogen.
  • Neun Schulen in Bayern arbeiten mittlerweile als Kompetenzzentren. Davon profitieren auch die anderen Schüler. Das Münchner Maria-Theresia-Gymnasium gilt deutschlandweit als Vorreiter.

Von Jakob Wetzel

Das Abfragen der Vokabeln übernehmen die Kinder diesmal selbst, Thomas ist dran. "Was heißt 'saepe'?", will eine Mitschülerin wissen, sie hat sich vorne neben das Lehrerpult gesetzt. "Oft!", sagt Thomas - aber das lassen ihm die anderen nicht durchgehen. "Das hast du Thomas vorhin schon gefragt!", beklagt sich ein Mädchen. "Das stimmt!", sagt ein Bub und nickt. Also ein anderes Wort, "pugnare", aber das weiß Thomas auch: "Kämpfen!". Er darf ins Viertelfinale.

Es ist Montagnachmittag, die 5 d am Maria-Theresia-Gymnasium, eine Förderklasse für Hochbegabte, hat Latein-Unterricht. Die Kinder hätten ein Quiz zum Vokabellernen erstellt, sagt Lehrerin Sabine Wächter. Sie selbst hält sich im Hintergrund. Und die Aufgaben werden schwieriger. "Was ist der Genitiv von 'mos'?", heißt es jetzt, und während die Halbfinalisten noch grübeln, gehen überall die Finger hoch, die Mitschüler hält es kaum auf ihren Sitzen. Die Finalisten schließlich müssen Grammatikfehler in lateinischen Sätzen finden, die ihnen vorgelesen werden, die Aufgabe ist knifflig, aber die Schüler lösen sie auch. Am Ende gewinnt Kai, er ist am schnellsten. Dann setzt er sich gleich wieder auf seinen Platz. Der Unterricht geht weiter.

Das Maria-Theresia-Gymnasium feiert an diesem Mittwoch Jubiläum: Seit 20 Jahren gibt es hier spezielle Förderklassen für Hochbegabte. Ab der fünften Klasse werden ausgewählte Schülerinnen und Schüler getrennt von den Regelklassen unterrichtet; bis kurz vor dem Abitur bleiben sie zusammen. Das Gymnasium in der Oberen Au war bundesweit die erste öffentliche Schule, an der solche Klassen eingerichtet wurden. Heute gibt es alleine in Bayern neun; ins Maria-Theresia-Gymnasium kommen hochbegabte Kinder aus München und dem östlichen Oberbayern. Mehr als 400 Kinder hat die Schule bislang in ihre "d-Klassen" aufgenommen, wie die Begabtenklassen intern heißen; etwa 250 haben schon Abitur. Und das Gymnasium gibt seine Erfahrungen als Kompetenzzentrum weiter - auch an Schulen ohne Begabtenklassen.

Von der Förderung der Begabten profitierten auch die anderen, sagt Schulleiterin Birgit Reiter. Das Maria-Theresia-Gymnasium ist vierzügig; etwa 160 der rund 880 Schüler besuchen eine d-Klasse. Dafür erhält die Schule zusätzliches Geld vom Kultusministerium, und das investiert sie: zum Beispiel in Wahlfächer, von Robotics bis hin zu Sprachen wie Russisch und Schwedisch. Das Angebot wäre ohne die Begabtenklassen wohl geringer, sagt Reiter, dasselbe gelte für die Klassenfahrten. Und die Schule erprobt andere Unterrichtsformen, etwa Atelierstunden in der Unterstufe: "Die Lehrer stellen Material bereit, damit sich die Schüler selbst vertiefend mit dem Schulstoff beschäftigen können", erklärt Silvia Duschka, die zuständige Mitarbeiterin in der Schulleitung. Was sie tun, könnten sich die Schüler aussuchen, "sie müssen aber dokumentieren, was sie machen." Wenn sie sich bewähren, werden solche Konzepte auch in die Regelklassen übertragen. Man wolle jedes Kind fördern.

Um in eine Begabtenklasse aufgenommen zu werden, muss ein Kind ein Auswahlverfahren bestehen. 70 bis 100 Kinder würden sich jeden Januar bewerben, heißt es von der Schule. Dazu gehören Zeugnisse, Empfehlungsschreiben der Grundschulen und Motivationsschreiben der Eltern, gerne auch der Kinder. Es folgt ein Begabungstest. Danach werden etwa 30 Kinder zum Probeunterricht eingeladen. Aufgenommen werden am Ende 20 bis 22, die anderen erhalten Absagen. "Wir versuchen sehr transparent zu sein, wie der Prozess abläuft", sagt Reiter. Versucht, sein Kind einzuklagen, habe bisher noch niemand.

Was die Begabtenklassen besonders macht, ist zunächst ihre Größe: Im Maria-Theresia-Gymnasium sitzen in den Regelklassen bis zu 32 Schüler, die Begabtenklassen sind um ein knappes Drittel kleiner. Die d-Klassen beginnen zudem in der fünften Klasse mit Englisch und Latein, sie vereinen den sprachlichen und den naturwissenschaftlich-technologischen Zweig. Die Lehrer aber sind dieselben wie in den Regelklassen, und einen eigenen Lehrplan gibt es auch nicht. Das Arbeitstempo freilich sei höher, sagt Reiter. Man wiederhole weniger und gehe mehr in die Tiefe.

Für Lehrer seien die Klassen herausfordernd, sagt Reiter. "Oft haben die Schüler großes Vorwissen und möchten das diskutieren. Die Lehrer schlüpfen mehr in die Rolle von Moderatoren." Hochbegabte redeten oft wie Erwachsene. "Da muss man aufpassen, dass man nicht aus dem Blick verliert, dass sie noch Kinder sind." Manchmal seien Schüler so gut in Mathematik, dass kein Lehrer mithalten könne, erzählt Reiter. "Man muss auch als Lehrer den Mut haben zu sagen: Das weißt jetzt du besser als ich."

Eine hohe Begabung zeigt sich nicht immer speziell in Mathematik; solche Klischees müsse man vermeiden, sagt Reiter, das sei geradezu das Erfolgsrezept der Begabtenklassen. Man müsse die einzelnen Kinder sehen. Viele hätten weniger ein mathematisches als etwa ein sprachliches Talent. "Die Gruppen sind nicht homogen, im Gegenteil", sagt Silvia Duschka. Aber Gemeinsamkeiten gibt es doch. Hochbegabte seien oft sehr neugierig und zeigten gerne, was sie können, sagen die Schulleiterinnen.

Sie hätten einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie seien "sehr empfindlich, was vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeiten angeht", sagt Reiter. "Man muss viele Entscheidungen besonders gut begründen." Dabei sind Hochbegabte nicht automatisch gute Schüler; auch das ist ein Klischee. Die Kinder haben nur die Anlagen dazu. "Vokabellernen muss man auch in einer Hochbegabtenklasse", sagt die stellvertretende Schulleiterin Irene Braun. "In der fünften Klasse müssen die Schüler erst lernen, dass sie überhaupt lernen müssen", ergänzt Duschka.

Ein Klischee schließlich sei es auch, weswegen in Begabtenklassen lange vor allem Buben saßen. Anfangs seien an ihrer Schule zwei von drei Kinder in den d-Klassen männlich gewesen, sagt Reiter. Dahinter stehe zum Teil eine unterschiedliche Wahrnehmung der Kinder. "Wenn Jungs gute Leistungen brachten, hieß es: Sie sind hochbegabt. Bei Mädchen hieß es einfach: Sie sind fleißig", sagt Reiter. Dass die Menschen so denken, hätten wissenschaftliche Studien bestätigt. Auch Eltern seien davor nicht gefeit - und diese machen den ersten Schritt, sie müssen ihre Kinder anmelden. Immerhin: Mittlerweile sei das Geschlechterverhältnis weitgehend ausgewogen.

Aus Sicht des Freistaats sind die Begabtenklassen ein Erfolg. Er hat sie in zwei Studien überprüfen lassen; dabei verglichen Forscher, wie es Schülern in Begabtenklassen und überdurchschnittlich begabten Schülern in Regelklassen ergeht. Schülerinnen und Schüler - es gibt hier kaum Unterschiede - lernen demnach in Begabtenklassen schneller und fühlen sich außerdem besser integriert und anerkannt.

Felix Palm bestätigt das: Der 24-jährige Münchner hat von 2006 bis 2011 die Begabtenklasse am Maria-Theresia-Gymnasium besucht. Er schwärmt von der Klassengemeinschaft. "Man wird nicht als Streber abgestempelt, nur weil man sich freiwillig für den Schulstoff interessiert", sagt er. "Und es war eine Bereicherung, mit vielen Leuten zusammenzuarbeiten, bei denen ich das Gefühl hatte: Die verstehen mich." In der Grundschule sei das nicht so gewesen. "Da war einer im Unterricht, der immer meinte, es besser zu wissen. Und es oft tatsächlich besser wusste." Für seine Lehrerin sei das wohl eine Belastung gewesen.

Was sich verbessern könnte, sei denn auch die Schulung der Lehrer, findet Palm. Viele hätten nicht gewusst, wie sie mit Hochbegabten umgehen sollten, und mehr von ihnen verlangt als von anderen, das sei unnötig. Und das sei auch verkehrt, sagt Schulleiterin Reiter. An die Schüler sollten keine höheren Ansprüche gestellt werden, das betone man bei Weiterbildungen für Lehrer immer wieder. Besonders wichtig sei das, wenn es aufs Abitur zugeht. In dieser Zeit werden die Begabtenklassen ohnehin aufgelöst. Die letzten zwei Jahre lernen alle Schüler gemeinsam. Und alle erhalten die gleichen Abitur-Aufgaben.

Das Maria-Theresia-Gymnasium gibt sich überhaupt Mühe, die Schüler in Kontakt zu bringen. Man schaffe bewusst viele Möglichkeiten, sich kennenzulernen, sagt Irene Braun. "Wir haben von Anfang an darauf geachtet, dass die Hochbegabtenklassen nicht unter sich bleiben, sondern eingebunden sind und sich einbringen in die Gemeinschaft der Schule." So gehen die Jahrgangsstufen etwa gemeinsam auf Klassenfahrten oder ins Schullandheim - und die Schüler aus den d-Klassen engagieren sich auch besonders bei "Schüler helfen Schülern", der schulinternen Nachhilfe.

Felix Palm findet, er habe stark von der Begabtenklasse profitiert. Auch für seine Berufswahl: So habe er mit der Schule etwa mehrmals die Universität besucht und dort zum Beispiel einen Elektromotor gebastelt. Jetzt studiert Palm Physik.

Das Studium erinnert ihn dabei manchmal an die Grundschule, zumindest in einer Hinsicht. Er habe als Kind oft den Eindruck gehabt, er müsse im Gespräch mit Gleichaltrigen langsam formulieren, damit sie ihn verstehen, erzählt er. In der Begabtenklasse sei das anders gewesen. Aber jetzt, im Studium, da habe er dasselbe Problem wieder.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir geschrieben, dass das Maria-Theresia-Gymnasium die erste Schule sei, an der solche Klassen eingerichtet wurden. Richtig, dass es sich um die erste "öffentliche" Schule handelt.

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SZ vom 20.03.2019/vewo/cat
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