Süddeutsche Zeitung

Schulanfang:Der erste Schultag als Großereignis

Aufbaukurs oder bilinguale Klasse? Passt das Dirndl farblich zum Schulranzen? Und wohin nur zum Essen an diesem großen Tag? Experten warnen: Kinder kriegen diesen Druck mit.

Von Lisa Böttinger und Melanie Staudinger

Die Einschulung begann sie kurz vor Weihnachten zu planen. "Wir wussten, dass wir zum Schulanfang einiges an Material anschaffen müssen", sagt Verena K. Ihre sechsjährige Tochter Helena wird am Dienstag in Trudering eingeschult. Also gab es von der Oma den Schulranzen schon zu Weihnachten: für 220 Euro, mit Federmäppchen und Turnbeutel, dazu eine große Portion Vorfreude gratis. Zumindest bei Helena.

Ihre Mutter hingegen sagt: "Für mich steht über dem neuen Kapitel Schulanfang irgendwie die Überschrift: Schluss mit lustig." Schon im letzten Kindergartenjahr sei vor allem unter den Eltern der Druck groß: In Whats-app-Gruppen werde diskutiert, wer sein Kind für die bilinguale erste Klasse mit Deutsch und Englisch anmeldet und ob die Kinder außer der Vorschule im Kindergarten auch eine Art Aufbaukurs besuchen sollen, den die künftige Grundschule anbietet. K. schickte ihre Tochter nur in die reguläre Vorschule: "Sie soll ihr letztes Kindergartenjahr noch mal voll genießen", sagt die 37-Jährige.

"Müssen die denn jedes Jahr immer früher kommen?" Diesen Satz hat sich Verena K. gemerkt, so hat sie die Verkäuferin in dem Schulranzen-Fachgeschäft im Glockenbachviertel begrüßt, Monate vor dem ersten Schultag. Denn auch die Vorschulkinder bekommen den Hype um ihre Einschulung mit - und bringen ihren Ranzen gerne schon mal vorzeitig mit in der Kindergarten: "Zum Herzeigen", wie K. es nennt.

Dabei sind vor dem ersten Schultag ja noch viel mehr Fragen zu klären: Braucht es ein neues Dirndl, das auch farblich zur Schultüte passt? Müssen neue Schuhe her? Und wohin geht die Familie an diesem großen Tag zum Essen? "Das Problem ist, man will weder bei allem mitschwimmen noch herausstechen", sagt K. Ihre Tochter wird ihr diesjähriges Dirndl zur Einschulung tragen, noch mal etwas Neues braucht es nicht. "Das hat sich auch Helena so gewünscht", sagt ihre Mutter und lächelt. Denn was den Kindern eigentlich wichtig ist, das scheint im ganzen Einschulungstrubel ab und an unterzugehen.

Druck, Stress und Angst, das Falsche zu tun: Entspannt sind die letzten Sommerferien wahrlich nicht. Während der erste Schultag früher meist daheim in kleiner Runde begangen wurde, ist er heute ein Großereignis. Eltern basteln pompöse Schultüten, sie besorgen wertvolle Geschenke vom Smartphone über einen Roller bis hin zu teuren Ketten und Armbändern und sie planen die Feierlichkeiten penibel. Längst ist die Einschulung zum einschneidenden Ereignis geworden, das richtig gefeiert werden muss. Von neun bis elf drängen sich Mütter, Väter, Omas, Opas, Tanten, Onkel, Geschwister und Taufpaten in den Grundschulen. Danach geht es direkt weiter in die nächstgelegene Gaststätte zum Festmahl mit Bescherung.

Wer davor nicht reserviert hat, wird sich schwertun. In Häusern wie dem Hofbräukeller am Wiener Platz essen die Kinder am Dienstag umsonst, die Eltern bezahlen normal. Diese Strategie geht auf: "Ausgebucht", meldet Thomas Wasner, Marketing-Manager im hauseigenen Veranstaltungsbüro. Auch im Restaurant "Schinken-Peter" in Giesing gibt es nur mehr freie Plätze, wenn das Wetter schön ist, weil in den Biergarten mehr Leute passen als in die Säle drinnen, wie Geschäftsführerin Silvia Andrea Fischer erklärt.

Der Ansturm in den Wirtshäusern wird größer und größer

Seit elf Jahren schon feiern sie dort den Schulanfang. Seit elf Jahren gibt es eine eigene Schulkarte: Nudel- oder Pfannkuchensuppe, Würstl, Knödel, Hähnchenfilet mit Gemüse und natürlich Schnitzel mit Pommes und am Schluss ein Eis. Genauso lange bekommen alle Erstklässler noch eine Schultüte geschenkt. "Anfangs war das Interesse nicht ganz so groß", sagt Fischer. In den vergangenen Jahren aber sei der Ansturm größer und größer geworden. Ähnliches berichtet Sabine Sedgwick vom Wirtshaus am Bavariapark im Westend. Auch dort wird deftig gespeist, dann können die Eltern ratschen und die Kinder basteln. Am Zuckertütenbaum wartet eine kleine Überraschung.

München wäre aber nicht München, wenn es nicht noch eine Nummer größer ginge. Wer Geld hat, lässt sein Kinderfest zum Beispiel von Daniela Schreck organisieren. Die Chefin von "Tollkids" schmeißt hauptberuflich Partys: All-inclusive-Feiern samt Einladung, Essen, Deko, Kuchen, Zauberer, Kasperltheater oder was sie sich sonst so wünschen.

Die Münchner, so berichtet Schreck, buchen zwar immer noch überwiegend Geburtstagspartys und Sommerfeste. Einschulungsfeiern aber sind im Kommen. Unvergesslich soll der erste Schultag sein, schließlich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt. "Früher war der erste Schultag ein Familienfest, es gab nichts außer der Schultüte", sagt Schreck. Heute kann sie von Müttern berichten, die ihren Töchtern Prinzessinnenkleider spendieren, oder von dem kleinen Jungen, der von der Oma einen Segway bekam, also einen elektrischen Stehroller.

Diesen Trend hin zu immer teureren Geschenken, zu immer exklusiveren Feiern sehen Experten mit Sorge. So nämlich setzen Familien sich selbst unter Druck. "Viele Eltern denken, dass die ersten Schuljahre ihres Kindes bereits festlegen, was im restlichen Leben passieren wird", sagt Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München.

Wer erfolgreich in der Schule ist, ist auch erfolgreich im Leben, glauben sie. Massives Beschenken geht zudem meist einher mit massiven Erwartungen. Wer seinem Kind teure Geschenke mache, gebe ihm das Gefühl, viel zurückgeben zu müssen, erläutert Schulte-Körne. Stimmen die Noten nicht, ist das Kind enttäuscht und verliert im schlimmsten Fall die Lust an der Schule. Was der Experte empfiehlt: einfach mal locker bleiben. "Gegen eine schöne Feier im Familienkreis ist aber nichts einzuwenden, um dem Kind zu zeigen, dass nun ein neuer Lebensabschnitt beginnt", sagt Schulte-Körne.

Der Wirbel um den Schulanfang erzeugt aber auch Neid und Benachteiligung. Während Schulanfänger in Bogenhausen, Schwabing oder Haidhausen manchmal gleich mehrere prall gefüllte Schultüten mit sich herumschleppen und gar nicht mehr wissen, mit welchem Geschenk sie sich zuerst beschäftigen sollen, gibt es Kinder im Hasenbergl, die keine einzige haben, weil dafür das Geld nicht reicht. Soziale Unterschiede zeigen sich so vom ersten Tag an.

Stiftungen und Warenhäuser versuchen, dem entgegenzuwirken. So gibt die Stiftung des Münchner Lehrerverbands vor den Sommerferien Schulmaterialien an Bedürftige aus, bei Galeria Kaufhof können Kunden für 15 Euro eine Charity-Schultüte kaufen, der Konzern legt noch einmal zehn Euro drauf - und ein Kind bekommt sie dann geschenkt.

Auch Gabriele Strehle hat an ihrer Grundschule am Hedernfeld in Hadern ein paar Vorkehrungen getroffen, damit die Kinder den ersten Schultag in guter Erinnerung behalten. "Sie freuen sich vor allem, wenn die Eltern sich zur Einschulung freinehmen und ihnen so zeigen, dass jetzt ein neues Leben beginnt", sagt die Rektorin.

Während die Mädchen und Jungen ihre erste Schulstunde verleben, begrüßt der Elternbeirat die Väter und Mütter mit Sekt und Butterbrezen. "So erfahren die Eltern aus erster Hand, was bei uns an der Schule wirklich los ist", sagt Strehle. Was es bei ihren Lehrern immer gibt, ist eine kleine Hausaufgabe. "Nur dann fühlen sich die Kinder als richtige Schulkinder", sagt Strehle. Der positive Nebeneffekt: Die Erstklässler könnten nicht den ganzen Tag durchfeiern, sie kämen durch die Malübung zumindest ein wenig zur Ruhe.

Man bleibt so lange, bis die Schultüte perfekt ist

Früher, so erzählt die Schulleiterin, gab es am selben Tag gleich noch den ersten Elternabend. Der aber wurde in den meisten Schulen längst verlegt. "Die Familien sollen diesen wichtigen Tag gemeinsam ausklingen lassen", sagt Strehle. Anderntags dürfen die Kinder dann vom Inhalt ihrer Schultüte berichten. Jeder nennt aber nur das Teil, das ihm am besten gefallen hat - "das ist nicht so bitter für die ärmeren Kinder". Als pädagogisch wenig sinnvoll erscheint Strehle, dass oft auch die kleinen Geschwister etwas geschenkt bekommen. Denn die Kleinen sollten lernen, einmal auf etwas zu verzichten oder zu warten.

In Helenas Kindergarten in Trudering hat man dafür eine gute Lösung gefunden: Auch die angehenden Schulkinder müssen sich ein wenig gedulden, bis sie die eigene Schultüte das erste Mal sehen dürfen. Das Basteln erledigen die Eltern an einem lange vorher angekündigten Donnerstagabend. "Für meinen Mann war es ein Riesenspaß, Helena ein rosa Einhorn, viel Glitzer und ihren Namen in bunten Buchstaben auf die Tüte zu kleben", sagt Verena K. Die letzte erschöpfte Mutter sei an dem Abend übrigens bis 21 Uhr geblieben - so lange eben, bis die Schultüte perfekt war.

Was Helena am Dienstag auspacken wird, haben die Eltern erst vor wenigen Tagen entschieden: Vielleicht ein T-Shirt, etwas zum Lesen oder Malen aus ihrer Lieblings-Kinderserie. Ein Smartphone wird sicher nicht dabei sein, "und auch nicht nur Süßkram", sagt ihre Mutter. Besonders gefreut haben sie die Worte von Helenas künftiger Schulleiterin beim ersten Elternabend: "Denken Sie daran: Die Kinder müssen die Schultüte selbst tragen können."

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Quelle:
SZ vom 09.09.2017/bhi
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