Als Hannah Jellissen zum ersten Mal mit ihrer Klasse nach Italien fuhr, fühlte sie sich noch gar nicht bereit. Da lernte sie erst seit etwas mehr als einem Jahr Italienisch, erzählt die 16-Jährige. „Und dann hat mir das einen totalen Schub gegeben!“ Eine Woche Padua in der neunten, in der zehnten Klasse eine Woche Verona, den nächsten Austausch plant sie schon. An ihrer Schule, dem Werner-von-Siemens-Gymnasium in Neuperlach, gebe es so engagierte Lehrkräfte, schwärmt sie, die vieles möglich machten. „Ich fühle mich Italien jetzt so viel näher.“ In den Sommerferien will sie ihre Austauschschülerin in Verona noch einmal besuchen, und auch die wird bald wieder nach München kommen.
Mit einer italienischen Gastmutter Tiramisu zuzubereiten, zwei Wochen mit einer gleichaltrigen Französin jeden Morgen in die Schule und am Wochenende zu Handballspielen quer durch die Provinz zu fahren – solche Erfahrungen können den Blick auf ein Land und seine Menschen verändern, Interesse wecken und ein Verständnis dafür schaffen, was Europa sein kann.
„Wenn ein Austausch mit Tränen endet, wenn es Liebesgeschichten gibt, dann war es ein guter Austausch“, sagt Marie-Laure Canteloube. Früher unterrichtete sie Deutsch an einer französischen Schule, heute ist sie am Institut français in München unter anderem für Schüleraustausche zuständig. „Wenn Jugendliche sich treffen, haben sie anfangs oft Ängste. Nach ein paar Tagen merken sie, sie haben die gleichen Probleme, die gleichen Ansichten. Wirklich nichts kann so einen Austausch ersetzen.“
Dass so ein Schüleraustausch bedeutsam ist, wichtig für die interkulturelle Kompetenz von Jugendlichen, für die Entwicklung der Persönlichkeit und ja, auch für die Verbindungen über Grenzen hinweg, das betonen alle im Kosmos Schule. Doch alles wird teurer und der Lehrermangel ist auch an den Gymnasien angekommen, bei denen es meist dazugehört, Partnerschulen im Ausland zu haben, jedes Jahr mindestens einen Austausch zu organisieren. Hat der klassische Schüleraustausch also eine Zukunft? Oder werden nur noch vor allem Kinder aus gut situierten Familien die Möglichkeit haben, ins Ausland zu reisen – individuell organisiert und oft selbst bezahlt?
Am Münchner Max-Planck-Gymnasium werden kommende Woche Schülerinnen und Schüler aus Frankreich erwartet, Ende Juni besucht eine Gruppe aus Lettland das Gymnasium, auch mit Italien gibt es regelmäßig einen Austausch. Noch fänden sich Lehrkräfte an den Schulen, die das organisieren, auch die Stunden könnten vertreten werden, sagt Michael Markard, Geschichtslehrer an der Schule und Bezirksvorsitzender des bayerischen Philologenverbands. „Aber die Frage ist, wie lange das noch geht.“
Die Belastungen im Lehrerberuf hätten zugenommen, sagt Markard. Nicht alle könnten in ihren Münchner Wohnungen die Kollegen aus dem Partnerland beherbergen. Außerdem seien die Reisekosten in den vergangenen Jahren gestiegen, die Budgets der Schulen aber nicht. „Schulleiter denken darüber nach, Fahrten zu streichen“, sagt Markard. „Es ist dringend nötig, dass die Budgets angehoben werden.“
Die Kosten für Schüler werden oft gefördert, etwa von Erasmus Plus. Neben dem Austausch, den die Schule organisiert, können Jugendliche auch selbst einen Auslandsaufenthalt planen, für ein paar Monate oder ein Jahr. Die Kosten sind unterschiedlich, die Vermittlungsseite „Raus von zuhaus“ gibt an, dass ein individueller Schüleraustausch mit einer Gastfamilie in Frankreich rund 6000 Euro kostet, in Neuseeland etwa 15 000 Euro. Manche Programme werden gefördert, andere zahlen die Familien selbst – und sie werden mit dem G9 attraktiver. Denn in der elften Klasse besteht die Möglichkeit für einen Auslandsaufenthalt, ohne dass das Auswirkungen auf das Abitur haben muss.
Es gibt durchaus Nachholbedarf: Während der Pandemie gab es kaum Schüleraustausche. Die Zahl der Schüler, die an einem internationalen Austausch teilgenommen haben, sank nach Angaben des Kultusministeriums um mehr als die Hälfte auf 13 750 Schüler. Im vergangenen Schuljahr stieg die Zahl wieder an, auf rund 23 800 Jugendliche.
Chancen auf einen Schüleraustausch haben vor allem Gymnasiasten
Die meisten Gymnasien haben Partnerschulen in Europa, es geht aber auch weiter weg: Die 16-jährige Naira DeRada besucht das Adolf-Weber-Gymnasium in Neuhausen-Nymphenburg, sie war in der zehnten Klasse für zweieinhalb Wochen in Texas und eine Woche bei einer Gastfamilie in Rom. „Ich bin so freundlich empfangen worden und immer noch mit vielen, die ich kennengelernt habe, in Kontakt“, sagt die Schülerin. „Viele gängige Vorurteile verstehe ich jetzt überhaupt nicht mehr.“ Eine Freundin von ihr habe allerdings nicht teilnehmen können, sagt sie. Weil in der Wohnung ihrer Familie zu wenig Platz sei, um ein anderes Mädchen für eine Woche aufzunehmen.
Internationale Erfahrungen nur für diejenigen, die es sich leisten können? Chancen auf einen Schüleraustausch haben vor allem Gymnasiasten. Damit sich das ändert, gibt es seit einigen Jahren ein Austauschprogramm nur für Mittelschüler: 15 Jugendliche reisen für zwei Wochen zu einer Gastfamilie in die USA, besuchen einen Englischkurs und engagieren sich vor Ort; für die Jugendlichen ist das kostenlos. „Wir bemühen uns, den Zugang zu einem Austausch vor allem denen zu eröffnen, die bislang wenig berücksichtigt wurden“, sagt Rita Stegen vom Pädagogischen Institut des Münchner Bildungsreferats. „Und das lohnt sich. Wir sehen, wie empowered die Schülerinnen und Schüler aus den USA zurückkommen.“
Doch noch kämen zwischen 80 und 90 Prozent der Anträge auf Förderung von Gymnasien, sagt Stegen. Es folgen die Realschulen; selten gibt es Anträge von Mittel- oder Förderschulen. Auch der Bayerische Jugendring (BJR) unterstützt vor allem Gymnasien. Hinzu kämen bis zu 250 individuelle Vermittlungen von Schülern pro Jahr, sagt Matthias Flakowski vom BJR. Und auch dort will man das ändern, will mehr Mittelschulen für Austauschprogramme gewinnen. „Die Schulen haben großes Interesse, man muss ihnen nur den Weg zeigen und dass es finanzielle Mittel dafür gibt.“
Philipp Rohrbacher hat Glück gehabt: Er lernt an einer Münchner Berufsschule und hat einen von 40 Plätzen im Austauschprogramm bekommen. Vier Wochen im Mai arbeitete der 37-Jährige in einem Betrieb im italienischen Perugia. Im Ausland klarzukommen, miteinander zu arbeiten, auch wenn es Sprachbarrieren gibt, und zu erleben, dass es funktioniert – „das ist so eine gute Erfahrung und gibt Selbstvertrauen“, sagt er. Davon bräuchte es mehr, meint er. „Gerade wenn man sieht, dass Nationen anfangen, mehr auf sich selbst zu schauen. Da ist es wertvoll, einen intuitiven und gründlichen Blick auf andere Menschen und Kulturen zu werfen.“